Der Fall Griechenland
So etwas hatte es in einem griechischen Gerichtssaal noch nicht gegeben. Als die Richter der 3. Kammer des Athener Landgerichts am 9. November die morgendliche Sitzung eröffneten, wurden sie von zwei Rechtssuchenden mit der Forderung konfrontiert, doch bitte zuallererst die religiösen Symbole aus dem Gerichtssaal zu entfernen. Während der Staatsanwalt das Ansinnen der Kläger (einer von ihnen, Panajotis Dimitras, der Sprecher der griechischen Bürgerrechtsgruppe „Helsinki Monitor“) kurzerhand abzulehnen gedachte, zögerten die Richter etwas und zogen sich zur Beratung zurück. Sie entschieden schließlich: Ohne eine entsprechende gesetzliche Regelung könne ihrem Ersuchen nicht stattgegeben werden.Die Bürgerrechtler fordern mittlerweile nicht nur den weltanschaulich neutralen Gerichtssaal. Was das Bundesverfassungsgericht bereits im August 1995 für den Freistaat Bayern entschieden hatte, dass nämlich jene Bestimmung der bayrischen Schulordnung, nach der in jedem Klassenzimmer ein Kruzifix zu hängen habe, gegen das Grundgesetz verstoße, soll nun nach Ansicht von „Helsinki Monitor“ auch in Griechenland entschieden werden.
Mit anderen Worten: Nach dem erfolgreichen Kampf für die Einführung der Zivilehe, nach dem vergeblichen Kreuzzug der orthodoxen Kirche gegen die neuen Personalausweise ohne Vermerk der Religionszugehörigkeit, steht den Griechen ein neuer Kulturkampf ins Haus. Nach der offiziellen Statistik sind zwar 97 Prozent der griechischen Staatsbürger orthodoxen Glaubens. Wie zuverlässig diese Statistik auch immer sein mag – die griechisch-orthodoxe Kirche ist die vorherrschende Religion in Griechenland, Muslime, Juden und Atheisten sind Minderheiten. Doch ist es denen zuzumuten, ihre Kinder zwangsweise unter dem Kruzifix lernen zu lassen, jener Darstellung einer grausigen Folterszene, die der Stiftung der christlichen Religion vorausging? Abgesehen davon, dass es in Athen längst Schulklassen gibt, in denen Christen die Minderheit sind.
Auslöser des neuen Kulturkampfs in Griechenland war die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der am 3. November der Klage einer italienischen Staatsbürgerin gegen das Kruzifix im Klassenzimmer stattgegeben hatte. In Italien wird gegen die drohende Verbannung des Gekreuzigten aus dem Klassenzimmer unter anderem mit der Behauptung argumentiert, dass es sich da nicht so sehr um ein religiöses Symbol handle als vielmehr vor allem um ein Stück nationale Identität – derlei kann man nun landauf landab auch in Griechenland hören. Und es ist ja etwas Wahres daran. Auch wenn der Durchschnittsgrieche, wenn es um das Monopol auf den Namen Mazedonien geht, sich gern als Erbe Alexanders des Großen aufspielt – konstitutives Element der nationalen Identität der Neugriechen ist das antike Erbe nicht. Nicht Platon, nicht Aristoteles oder Perikles waren identitätsstiftend bei der Entstehung des neugriechischen Nationalstaats, es war das byzantinische Erbe.
Wie in fast allen anderen Balkanstaaten sorgte auch hier das religiöse Bekenntnis für den nationalen Zusammenhalt. Griechenland hatte in den Jahren der Nationwerdung in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhundert eine ethnisch durchaus gemischte Bevölkerung – neben Griechen wohnten dort Albaner und Vlachen, Slawophone, Türken, Juden und Roma. Die drei erstgenannten Volksgruppen bekannten sich aber mehrheitlich zur griechisch-orthodoxen Religion, was ihre schnelle Hellenisierung erleichterte, ein weitgehend homogenes Staatsvolk zu schaffen erlaubte und zugleich die Vormachtstellung der orthodoxen Staatskirche begründete.
Zwangsläufig war diese Entwicklung bei der Entstehung des neugriechischen Staats allerdings nicht. Der Aufstand von 1821 gegen die Osmanenherrschaft stand zunächst eigentlich im Zeichen der französischen Revolution, der wichtigste Vordenker des griechischen Befreiungskriegs, Rigas Feraios, war den Ideen Montesquieus und Voltaires verpflichtet, deren Werke er ins Griechische übersetzte. Und dieser Rigas Feraios hatte keinen Nationalstaat als Revolutionsziel im Sinn, sondern eine polyethnische Balkanföderation. Doch setzte sich die orthodoxe Kirche im letzten Moment an die Spitze des Aufstands und nahm den Aufklärern erfolgreich den Wind aus den Segeln. Es entstand ein Staat, dessen Charakter die Obristendiktatur der Papadopoulos & Co. 1967 mit der Formel „Ellas Ellinon Christianon“ – „Griechenland christlicher Griechen“ – am deutlichsten auf den Begriff brachte.
Bis heute werden in Athen Staatspräsidenten und Regierungschefs vor dem Erzbischof vereidigt, bei unzähligen Amtshandlungen ist der Klerus mit dem Weihwasserwedel dabei. Und dabei soll es für immer bleiben, wenn es nach dem Willen der Oberhirten ginge. So war auch die helle Aufregung der griechischen Kirche zu erklären, als der europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg der italienischen Staatsbürgerin Soile Lautsi aus Abano Terme Recht gab, die es nicht hinnehmen wollte, dass ihre zwei Kinder in der staatlichen Schule in allen Klassenräumen im Angesicht des Gekreuzigten unterrichtet wurden. Dieses Urteil war es schließlich auch, das die griechischen Bürgerrechtler von „Helsinki Monitor“ zu ihren Initiativen ermunterte.
Und nach ihrem Vorstoß im Athener Landgericht hatte auch der Abgeordnete Grigoris Psarianos von der Linkspartei SYRIZA eine parlamentarische Anfrage an das Unterrichtsministerium gerichtet, wann es die religiösen Symbole aus den Klassenzimmer entfernen lassen werde und das Schulgebet zu einer freiwilligen Handlung außerhalb des offiziellen Unterrichts zu erklären gedenke.
Noch gelingt es den griechischen Oberhirten immer wieder, ihre Schäflein zu Massenprotesten auf die Straße zu bringen, jedes Mal wenn eine Regierung die Trennung von Kirche und Staat ein Stückchen voranbringen, den weltanschaulich neutralen Staat etablieren will. So zuletzt bei der EU-weiten Einführung der Plastik-Personalausweise, in denen die Eintragung des religiösen Bekenntnisses entfällt. „Kapitulation vor den Direktiven aus Brüssel bedeutet Verrat an der Nation“, tobte damals Erzbischof Christodoulos. Doch das sind, auf lange Sicht, Rückzugsgefechte. Wobei es mit diesen Kämpfen weniger um Glaubensfragen geht, als um drohenden Machtverlust.
Die Kirche musste in den letzten Jahrzehnten eine Machtposition nach der anderen räumen, in diesen Tagen geht es, angesichts der äußersten Knappheit der staatlichen Mittel (sprich dem drohenden Staatsbankrott), auch um den Verlust steuerrechtlicher Privilegien. Und das ist für den Klerus, der mit dem fetten Kirchenvermögen lieber Monopoly spielt (anstatt es in karitative Werke zu stecken), viel schmerzlicher als die mögliche Entfernung des Schmerzensmannes aus öffentlichen Dienstgebäuden.
NRhZ, 9.12.2009