Panzerschlacht in Thrazien, Luftschlacht über der Ägäis?

Türkische Kriegsszenarien für den „Casus belli“

Betont friedlich zugehen sollte es auf der Eröffnungssitzung der Beitrittsverhandlungen der Außenminister der EU mit der Türkei, am diesem Montag in Luxemburg: Fragen der Wissenschaft und Forschung standen auf der Tagesordnung  – harmloser Stoff, so hatte man offenbar gedacht, problemlos und konfliktfrei über die Bühne zu bringen. Doch um ein Haar wäre die Sitzung ausgefallen: Die Türkei weigert sich beharrlich, die durch den EU-Beitritt Zyperns geschaffenen neuen völkerrechtlichen Fakten anzuerkennen, und Außenminister Gül drohte, nicht zum erstenmal, mit Nichterscheinungen beim Rat, wenn die EU auf der sofortigen Zollunion mit dem EU-Mitglied Zypern bestehe. Und einmal mehr gaben die EU-Außenminister den Drohungen aus Ankara nach, auch Zypern lenkte ein. So überschattete unvermittelt die ungelöste Zypernfrage die Luxemburger Verhandlungsrunde.

Dabei hätte man erwarten können, dass ein ganz anderer casus am Montag in Luxemburg zum Stolperstein würde: ein drohender casus belli. Der griechisch-türkische Luftzwischenfall vom 23. Mai, bei dem zwei F-16-Kampfflugzeuge der verfeindeten Ägäis-Nachbarn abgestürzt waren und nur der türkische Pilot überlebte, hatte zwar nicht zu einem militärischen Schlagabtausch geführt, rief aber in Erinnerung, was für ein hochgefährliches Spannungsgebiet die Ägäis nach wie vor ist. Die Regierung in Athen reagierte besonnen, und die griechische Bevölkerung ließ sich in ihrer Mehrheit nicht von der Aufgeregtheit der Meinungsmacher (vor allem der kommerziellen Fernsehkanäle) beeinflussen: eine Umfrage des Instituts Kappa Research ergab: 52,6% der griechischen Bevölkerung finden es richtig, wie die Regierung reagiert hat  – entschieden aber gelassen, Vermeidung von Konfrontation.  Die Türkeireise der griechischen Außenministerin Dora Bakojanni fand wie geplant statt, eine Reihe von Maßnahmen für ein politisches Krisenmanagement bei zukünftigen Fällen militärischer Provokation wurde beschlossen. Kurz: der von einigen griechischen Medien eilig prognostizierte heiße Sommer mit Stahlgewittern über der Ägäis findet bislang nur meteorologisch statt, Athen stöhnte dieser Tage unter der ersten Hitzewelle des Jahres.

Ein Zeichen dieser neuen Gelassenheit war zuvor schon die Athener Nicht-Reaktion auf ein in der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet (dem traditionellen Organ der Kemalisten) veröffentlichtes Kriegsszenario, dass eigentlich geeignet war, die Griechen das Fürchten zu lehren (und genau dies wahrscheinlich auch beabsichtigte).  Doch wird sich in Kürze das Europa-Parlament mit dem Text (in griechischer Übersetzung abgedruckt in Heft 48 der Zeitschrift Hellenic Defense Review) zu befassen haben, auf Antrag des griechischen Abgeordneten Karatsaferis.

Grund für eine Debatte ist der martialische Text für die Europa-Politiker allemal. Der Verfasser ist Ali Külebi, stellvertretender Direktor des den Streitkräften nahestehenden Instituts für Strategische Studien (TUSAM). Külebi beschreibt in allen Details den mutmaßlichen Verlauf eines Präventiv-Überfalls auf das Nachbarland und EU-Mitglied Griechenland – zu Wasser, zu Lande und aus der Luft. Der mögliche Anlass für den Präventivkrieg bleibt zunächst vage. Von neuen „Großgriechenland“-Phantasien der Nachbarn faselt der Autor, aber konkret gemeint ist tatsächlich eine (nach griechischer Ansicht seerechtlich zulässige) Ausdehnung der griechischen Hoheitsgewässer von sechs auf zwölf Seemeilen – die erst kürzlich wieder offiziell bestätigte türkische „casus-belli“-Doktrin sieht für einen solchen Schritt einen Kriegsausbruch als Automatismus vor.

Strategische Ziele

Drei strategische Ziele nennt Külebi für den „casus belli“: 1.Vormarsch der türkischen Panzerverbände bis nach Thessaloniki und zum Fluss Axios,  Besetzung von Westthrazien und Ostmazedonien; 2. Landung auf den der anatolischen Küste vorgelagerten griechischen Inseln; 3. Eroberung und endgültige Annexion von Restzypern (Fortsetzung der 1974 auf halbem Weg abgebrochenen „Befriedungs-Operation“, wie Külebi sie nennt). Der Verfasser geht davon aus, dass der Erfolg der türkischen Seite vor allem davon abhänge, die Vorteile des Erstschlags zu nutzen. Dazu gehöre die weitgehende Ausschaltung der  bei den regelmäßigen Aufklärungsflügen der türkischen Kampfflugzeuge über dem griechischen Luftraum ausgekundschafteten Luftverteidigungssysteme (Patriot und S-300 Boden-Luft-Raketen), sowie größerer Teile der Luftflotte des Gegners. Das fiele umso leichter, als, mit Ausnahme der Basen von Andravida (Nordwestpeloponnes) und Araxos (Südepirus), alle griechischen Luftwaffenstützpunkte in unmittelbarer Reichweite der Türken liegen.

Für den Landkrieg in Thrazien macht Külebi, nach einer detaillierten Analyse der gegenwärtigen Kräfteverhältnisse (diesseits und jenseits der Grenze stationierte sowie zum Einsatz mobilisierbare Panzerverbände, ihre Truppenstärke und Bewaffnung bis hin zum jeweiligen Granatentyp) die Prognose, dass die Griechen ihre Panzerbrigaden in Erwartung eines Eingreifens der EU alsbald bis in den Raum Thessaloniki zurückziehen würden, was dem Angreifer einen schnellen Vormarsch bis zum Fluss Axios ermöglichte.

Übermacht

Den Hauptvorteil auf türkischer Seiten sieht Külebi in der zahlenmäßigen Überlegenheit der eigenen Landstreitkräfte. Da schon in den ersten Kriegstagen auf beiden Seiten mit erheblichen Ausfällen an Material zu rechnen sei (wo ein gewisses Gleichgewicht herrscht), komme die erdrückende türkische Übermacht beim militärischen Personal schon schnell zum Tragen. Von einem  Verhältnis 1:6 geht Külebi hier aus, bei einer gewohnt schnellen Mobilisierung von Reserven werde die Türkei alsbald bis zu 100 000 an die Thrazien-Front heranführen können, weitere 100 000 Mann stünden für die Landeoperationen auf den der türkischen Küste vorgelagerten griechischen Inseln zur Verfügung. Diese Inseln einzunehmen ist für Külebi nur eine Frage von Stunden, eine Vorbereitung durch intensiven Artillerie-Beschuss vom türkischen Festland aus vorausgesetzt. Für die Landeoperationen stünden 50 Landungsboote und 300 Transporthubschrauber bereit. Griechischen Versuchen, die Landeoperationen aus der Luft mit Maverick- und Exocet-Raketen zu behindern, werde nicht nur die türkische Luftwaffe erfolgreich begegnen,  es stünden auch die neu erworbenen Luftverteidungsbatterien vom Typ Hawk sowie die Waffensysteme vom Typ Sea Sparrow zur Verfügung, mit denen die türkischen Fregatten der G-Klasse ausgestattet sind.

Gewiss sind bei den großmäuligen Siegesprognosen Külebis Abstriche zu machen – ein Spaziergang wäre die Eroberung Westhraziens und Ostmazedoniens, die Besetzung der ostägäischen Inseln keinesfalls. Aber in Griechenland weiß man: im Ernstfall hätten die eigenen Streitkräfte gegen den militärischen Koloss im Osten keine realistische Chance. Es kann bei den eigenen aufwendigen Verteidigungsanstrengungen nur darum gehen, dem Gegner den Sieg so teuer wie möglich zu machen. Dies allein ist Sinn und Zweck der astronomischen Rüstungsausgaben der letzten Jahrzehnte (sieht man einmal ab von den fetten Schmiergeldern, die bei jedem Rüstungskauf fällig werden und deren Empfänger in Griechenland jeder zu kennen glaubt…).

Die Rolle der EU

Ein Eingreifen der EU an der Seite ihres Mitglieds Griechenland schließt Külebi im Kriegsfall aus, da die Europäer nicht über eine adäquate Eingreiftruppe verfügten. Das stimmt. Gewiss – im Fall eines türkischen Angriffs auf Griechenland wären Ankaras EU-Beitrittsperspektiven wohl für immer verspielt. Aber Teile des militärischen Establishments halten von einem EU-Beitritt ohnehin nichts – er würde die derzeitige Allmacht des Militärs und die Privilegien des Berufsoffizierskorps entscheidend beschneiden, mit anderen Worten: das türkische Militär wäre der eindeutige Verlierer eines Anschlusses an Europa.

Wohlgemerkt – Külebis Institut für Strategische Studien ist nicht die Stimme der Regierung Erdogan. Es steht (ebenso wie die Zeitung Cumhuriyet, die sein Angriffs-Szenario veröffentlichte) den Streitkräften nahe. Aber die „casus belli“-Doktrin ist auch weiterhin offizielle türkische Politik und der politische Spielraum der Zivilregierung in Ankara gegenüber dem Militär denkbar gering, wie Premier Erdogan immer öfter erfahren muss. Von einem stillen Militärputsch war schon die Rede, als Erdogan unter Druck der Generäle seine Ambitionen auf den Präsidenten-Posten aufzugeben sich gezwungen sah.

Die EU hat es nach dem doppelten F-16-Absturz mit einer milden Mahnung an die türkische Adresse bewenden lassen. In einem letzte Woche verabschiedeten Papier des Türkei-Assoziationsrats zur Vorbereitung der 45.Sitzung des Gremiums wird dem EU-Kandidaten zwar bedeutet, dass Ereignisse wie der Luftzwischenfall vom 23.Mai „einen negativen Einfluss auf die gutnachbarschaftlichen Beziehungen“ hätten, worüber der Rat der EU sein Bedauern ausdrücke. Doch einen sofortigen Widerruf der „casus-belli“-Doktrin fordert die EU auch weiterhin nicht von dem Beitrittskandidaten Türkei.

Es ist nun Sache der Euro-Parlamentarier, nach der Lektüre des ihnen vorliegenden türkischen Kriegsszenarios zu fragen, ob Beitrittsverhandlungen mit einem Staat Sinn haben, der für die Lösung einer völkerrechtlichen Streitfrage nur den unmittelbaren Weg der Waffengewalt kennt, statt zunächst den für solche Fälle in der Charta der Vereinten Nationen vorgesehenen Rechtsweg zu beschreiten. Das Einlenken Ankaras in der Zypernfrage wäre dagegen nur von zweitrangiger Bedeutung. Und so verführerisch es für einige EU-Mitglieder auch sein mag, von den phantastischen Rüstungsgeschäften zu profitieren, die der Spannungsherd Ägäis ihren Waffenschmieden bietet – ein förmlich erklärter Verzicht der Türkei auf die Gewalt als erstes Mittel der Politik sollte den Vorrang haben, als conditio sine qua non für jede weitere Verhandlungsrunde. Dann wäre die Regierung in Ankara am Zug, soweit die Militärs ihr den nötigen Spielraum lassen. Das herauszufinden wäre das Gebot der Stunde.

Exantas Heft 4/ Dezember 2006