An untold Story – Der Untergang der Struma

Im Frühsommer 2001 fand in dem türkischen Fischerdorf Sile am Schwarzen Meer, heute auch ein beliebter Ferienbadeort der Istanbuler, eine denkwürdige Wiederbegegnung statt – David Stoliar, US-Bürger, rumänischer Jude von Herkunft, 77 Jahre alt, traf den etwas jüngeren türkischen Fischer Ismael Aslan, und der erzählte Stoliar, wie er miterlebt hatte, als die Leuchtturmbesatzung von Sile ihn, 65 Jahre zuvor, halbtot aus dem Wasser zog.

Und das war die Vorgeschichte: 791 rumänische Juden hatten am 12. Dezember 1941 im rumänischen Hafen Constanza das marode Schiff Struma bestiegen – für eine Fahrt nach Palästina, Doch sie kamen nicht weit – die Struma wurde drei Tage später im Bosporus, manövrierunfähig wegen Maschinenschadens, von einem türkischen Schlepper in den Hafen von Istanbul gebracht, wo Versuche zu einer Reparatur erst einmal scheitern. Am 27. Dezember teilt der britische Botschafter in Ankara dem türkischen Außenministerium mit, dass die Struma keine Landeerlaubnis in Palästina erhalte, die Türken möchten das Schiff ins Schwarze Meer zurück schicken. Pushback nennen wir das heute. Was aber einstweilen nicht geht, solange die Maschine der Struma funktionsunfähig bleibt. Gleichzeitig beginnt in London ein heftiges Tauziehen um das weitere Schicksal der Flüchtlinge, gibt es doch im Regierungsapparat auch Befürworter einer Einreiseerlaubnis nach Palästina.

Auf türkischer Seite ist eines klar: Die Flüchtlinge dürfen nicht von Bord, eine Aufnahme in der Türkei kommt nicht in Frage. Während die Lage der Flüchtlinge an Bord unerträglich wird – Stockbetten wie im KZ, primitivste hygienische Bedingungen, ein einziger Waschraum an Bord für die fast 800 Passagiere, nur eine kleine Küche. Nur einmal pro Woche dürfen Vertreter der jüdischen Gemeinde von Istanbul warme Mahlzeiten an Bord bringen. Die Ruhr breitet sich aus, aber nur ein paar schwer Kranke dürfen von Bord. Was die Regierung in London allerdings weniger interessiert als die Frage einer Überschreitung der Einwanderungsquote im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina und der Widerstand der Araber gegen den unerwünschten Zuzug, und gute Beziehungen zu den Arabern stehen vor allem für Außenminister Anthony Eden an erster Stelle.

Unterdessen teilt die türkische Regierung den Briten mit, dass eine Rückreise der Struma nicht möglich sei, weil, zum ersten, die Rumänen nicht bereit wären, die illegal ausgereisten Passagiere an Bord der Struma wieder einreisen zu lassen, weil, zum zweiten, alle Versuche der türkischen Ingenieure, die Schiffsmaschine wieder zu reparieren sich als fruchtlos erwiesen hätten, und weil, zum dritten, der Kapitän mitgeteilt habe, der Zustand des Schiffes und der Zustand der Passagiere habe sich dermaßen verschlechtert, dass er eine Verantwortung für die Weiterreise nicht übernehmen könne . Die einzige Lösung des Problems; die Ausbootung der Passagiere und ihre Weiterreise in einem anderen Boot.

Im Foreign Office in London ergreift derweil Oliver Harvey, Privatsekretär von Außenminister Anthony Eden, für die Flüchtlinge auf der Struma Partei, widersetzt sich ihrer Rücksendung nach Rumänien. Er schreibt seinem Chef: „ Kann nichts getan werden für diese unglücklichen Flüchtlinge? Muss die Regierung ihrer Majestät eine so unmenschliche Entscheidung treffen? Wenn sie zurückkehren werden sie alle getötet!“ Und wenn eine Einreise der Flüchtlinge nach Palästina nicht möglich sei, so schlägt er Eden vor, sie nach Zypern zu schicken – damals noch britische Kronkolonie. Doch das bleibt eine Minderheitenmeinung im Foreign Office. Würden wir diese Leute aufnehmen, so vor allem Charles W. Baxter, würden mehr und mehr Schiffsladungen von unerwünschten Juden folgen. Genehmigt werden schließlich nur noch Palästina-Visa für eine kleine Zahl von Jugendlichen auf der Struma, doch diese Entscheidung erreicht Ankara zu spät.

Am 23. Februar folgen die Türken dem ursprünglichen Vorschlag der Briten auf die einzig mögliche Weise – ein Schlepper nimmt das Schiff an die Leine und bringt es zurück ins Schwarze Meer. Außerhalb der türkischen Hoheitsgewässer, etwa zehn Seemeilen vom Festland überlässt man die Struma, ohne arbeitsfähige Maschine ihrem Schicksal, und das ereilt sie wenig später – ein Torpedo trifft das Schiff am 24. Februars 1942 bei Tagesanbruch, es sinkt in wenigen Minuten. Nur ein paar Passagiere überleben zunächst, und von ihnen sterben die meisten wenig später an Unterkühlung. David Stoliar, kann sich mit drei Mitgliedern der Crew an eine Decksplanke klammern, diese drei widerstehen der Kälte nur noch wenige Stunden, Stoliar hält als einziger 24 Stunden durch, bis er von der Besatzung des Leuchtturms von Sile wahrgenommen und aus dem eisigen Wasser geborgen wird. .Zwei Tage später wird er nach Istanbul gebracht, im das Haidarpascha-Numune-Hospital halbwegs gesund gepflegt.

Kaum genesen, wird der letzte Überlebende der Struma von der türkischen Polizei festgenommen und ins Gefängnis geworfen – wegen illegaler Einreise ohne gültige Papiere. Dass er nicht auf Nimmerwiedersehen im Knast verschwand – die türkischen Behörden hatten ja kein Interesse am Überleben des einzigen Zeugen des Untergangs der Struma, das verdankte er, so vermuten Berichterstatter, einem Schweizer Journalisten, dem es gelungen war, ihn auf dem Weg ins Krankenhaus zu interviewen und die Tatsache international bekannt zu machen, dass es einen Überlebenden der Struma namens David Stoliar gab.

Und den wollen die Türken loswerden, drohen ihn nach Rumänien abzuschieben. Bis die Briten ihm und der Überlebenden Rosa Medea Salamowitz – sie lag in einem Istanbuler Krankenhaus, als die Struma abgeschleppt wurde – am 21. März.Visa nach Palästina gewähren,

aus humanitären Gründen, wie sie betonen. Stoliars Odyssee geht weiter – es folgen: eine Zeit in der britischen Armee, ein paar Jahre in Japan, schließlich die Auswanderung in die USA. Er heiratet zweimal, wird Großvater. Er stirbt in Oregon, Großvater, mit 91 Jahren.

Die Struma-Versenkung bedeutet für die Regierung ihrer Majestät ein erhebliches PR-Problem .Und so werden Gerüchte in die Londoner Presse lanciert, etwa dieser Art: die Flüchtlinge selbst hätten eine Explosion auf dem Schiff ausgelöst, weil sie eine Rückkehr nach Rumänien fürchteten. Doch es gelingt schon bald, die Angelegenheit nachhaltig dem Vergessen anheim fallen zu lassen. In der mit einem Literaturnobelpreis ausgezeichneten sechsbändigen Geschichte des 2.Weltkriegs von Winston Churchill, erstveröffentlicht 1948, findet sich zu der für die Briten (und auch für ihn selbst) so belastenden Struma-Katastrophe nicht eine einzige Zeile. Eine halbe Seite findet sich da immerhin, erstaunlich genug, zu einem anderen maritimen Fluchtweg für verfolgte Juden, der noch bis 1944 offen geblieben war, zu Churchills Leidwesen: der für die letzten griechischen Juden, die der Deportation nach Auschwitz entgangen waren.

Es war vor allem Anthony Eden, der ihre Flucht mit Fischerbooten über die Ägäis an die türkische Küste verhindern wollte. Nicht allein der Begrenzung der Einwanderung nach Palästina wegen – er behauptet, die Fluchthelfer (die „Schleuser“ – wie wir sie heute nennen) verdienten zu gut an den Transporten, die Juden hätten ja so viel Geld. Und diese Fluchthelfer, was auch Winston Churchill außerordentlich missfällt, gehören zur linken Widerstandsorganisation EAM/ELAS, und auf deren gewaltsame Ausschaltung nach dem Abzug der deutschen Besatzer bereiten sich die Briten längst vor. Deshalb wäre es, so Winston Churchill eiskalt und zynisch, “better for us to keep the Greek Jews in the grip of the Germans“ – so steht es wortwörtlich in einer internen Note an Eden (nicht allerdings in Churchills Memoiren), aber, (und das steht drin), „warum sollen wir uns auf einen Streit mit den Amerikanern einlassen?“ Und ein solcher drohte – Präsident Roosevelt bereitete sich auf seine Wiederwahl vor (im November 1944), und da brauchte er die Stimmen der Juden, vor allem im Wahlkreis New York, .Zuvor nicht eben als Freund der Aufnahme von geflüchteten Juden hervorgetreten, hatte er doch noch 1939 dem Flüchtlingsschiff St. Louis die Landung verweigert, so kamen ihm jetzt Pläne seines Finanzministers Morgenthau zur Einrichtung eines Fluchthilfebüros für Juden, des War Refugee Board (WRB) gerade recht . Auch in Griechenland und der Türkei wurde das WRB aktiv, und so musste Churchill Edens Plänen eine Absage erteilen. die Pläne seines Außenministers, mit welchen Mitteln auch immer der die Flucht der griechischen Juden zu verhindern trachtete. Etwa 2000 griechische Juden finden noch ihren Weg übers Meer nach Kleinasien, einige von ihnen weiter nach Palästina, andere nach Ägypten.Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Geschichte der Struma aber, immerhin die größte zivile Schiffskatastrophe des Zweiten Weltkriegs, bleibt für ein halbes Jahrhundert im angelsächsischen Bereich eine „untold story“ – sieht man ab von mehr oder weniger knappen Erwähnungen in Werken jüdischer Autoren über die Shoa. Bis 2003, da erscheint mit „Death on the Black Sea, verfasst von Douglas Frantz, ehemaliger Bürochef der New York Times in Istanbul und Catherine Collins, Türkei-Korrespondentin der Los Angeles Times. eine umfangreiche Darstellung des Dramas, 350 Seiten.

In Deutschland war bereits 1965 ein Buch zur Versenkung der Struma erschienen, verfasst von dem Militärhistoriker Jürgen Rohwer. Er recherchierte im Auftrag der Bundesregierung, zur Klärung der Frage, ob sich für Deutschland Entschädigungsverpflichtungen ergeben, für Angehörige der 782 Struma-Opfer. Eine präzise Recherche, die (zur Zufriedenheit des Finanzministeriums) vor allem klärte: Es war ein sowjetisches U-Boot, dass das Torpedo auf die Struma abgeschossen hatte, der Kapitän hatte die Struma wohl für ein deutsches Transportboot gehalten, und es war kein deutsches Schnellboot, das die Struma versenkte (wie fälschlich noch 1987 bei Götz Aly zu lesen). Überlegungen, Judentransporte von Rumänien in Richtung Türkei „auch mit friedensmäßig vielleicht nicht üblichen Mitteln zu unterbinden“, sind zwar im Kriegstagebuch der Gruppe Süd dokumentiert, dies allerdings erst im Mai 1943, und realisiert wurden sie nicht.

Im Sommer 2000 machte sich dann ein Taucher-Team auf die Suche nach dem Wrack der Struma, mit Erfolg. Es folgte eine Gedenkfeier für die Opfer. Viele trauernde Familienmitglieder waren dabei, und Vertreter der israelischen und der türkischen Regierung. Auch der britische Türkei-Botschafter David Logan nahm an der Trauerfeier teil und warf einen großen Kranz ins Meer. Der einzige Überlebende des Schiffbruchs war der Einladung nicht gefolgt, machte.familiäre Gründe geltend. Was er gehört hätte, von britischer Seite, war dieses knappe Eingeständnis des Botschafters:

„Wir verfolgten eine ganz klare Politik restriktiver Einwanderung nach Palästina. Rückblickend hätten wir offensichtlich eine menschlichere Haltung einnehmen können – in Verfolgung unserer Politik hatten wir die humanitäre Situation aus dem Auge verloren.“

Eine Bitte um Entschuldigung ist nicht überliefert. Ein Kommentar von David Stoliar zu diesen nicht eben einfühlsamen Bürokratenworten ebensowenig.

Konkret 2/2022

LESERBRIEF AN KONKRET zu Konkret 2/22: „An untold story“
Vor 80 Jahren versank die Struma nach einem Torpedotreffer im Schwarzen Meer – mit fast 800 jüdischen Flüchtlingen an Bord. Von Eberhard Rondholz

Es ist verdienstvoll, dass Eberhard Rondholz an das Schicksal der jüdischen Flüchtlinge erinnert, die im Februar 1942 ums Leben kamen, als ihr Schiff Struma im Schwarzen Meer versenkt wurde, nachdem die Türkei den Passagieren die Landerechte verwehrt hatte. Doch es sollte in diesem Zusammenhang erwähnt werden, dass sich in den letzten Jahren auch andere intensiv darum bemüht haben, das Schweigen über diese „untold story“ zu brechen. Dazu gehörte der Schriftsteller Doğan Akhanlı, der am 31. Oktober 2021 verstorben ist. Der aus der Türkei stammende Autor und Menschenrechtsaktivist war nach Kerkerhaft und Folter 1991 ins Exil geflohen und lebte danach die meiste Zeit in Köln. Selbst Jahrzehnte später sah sich Doğan noch der Willkür des Erdoğan-Regimes ausgesetzt. Denn er thematisierte in seinen Romanen nicht nur den Holocaust, sondern auch Tabus der türkischen Geschichte wie den Völkermord an den Armenier*innen und den Umgang der Türkei mit jüdischen Flüchtlingen im Zweiten Weltkrieg.
Deshalb wurde Doğan 2010, als er seinen kranken Vater im Osten der Türkei besuchen wollte, schon am Flughafen in Istanbul verhaftet. Und 2017 landete er während eines Urlaubs im spanischen Granada aufgrund eines von der Türkei bei Interpol lancierten internationalen Fahndungsaufrufs in Madrid in Abschiebehaft. Dank breiter internationaler Solidaritätskampagnen kam er in beiden Fällen wieder frei. Sein 2018 publiziertes Buch über seine „Verhaftung in Granada“ ist eine Abrechnung mit dem Erdoğan-Regime und ein Plädoyer für eine kritische Aufarbeitung von Geschichte.
Dazu gehörte für Doğan auch die Erinnerung an die türkische Mitverantwortung für den Untergang des jüdischen Flüchtlingsschiffs Struma, dessen Geschichte er bereits 2005 in seinem Hauptwerk „Madonnas letzter Traum“ am Beispiel einer fiktiven türkischen Jüdin beschrieb. Die deutsche Fassung des Romans erschien 2019 (im Sujet Verlag) und darin sind alle jüdischen Passagiere der Struma, die 1942 ums Leben kamen, benannt. Ihre Namen sind neben den Seitenzahlen aufgeführt – von Leiba Blumenfeld und Clara Weinberg auf den ersten Seiten bis zu Harry Margulius und Sorin Schwartz auf den letzten.
Anlässlich von 75 Jahren Kriegsende stellte Doğan Akhanlı im September 2020 seinen Roman bei einer Diskussionsveranstaltung von recherche international „zur Bedeutung eines kritischen Geschichtsbewusstseins in der Migrationsgesellschaft“ im Kölner NS-Dokumentationszentrum vor. Bei der Veranstaltung trat mit ihm die Historikerin und Turkologin Corry Guttstadt auf, die in ihrem schon 2008 im Verlag Assoziation A erschienenen Buch „Die Türkei, die Juden und der Holocaust“ ebenfalls „die Tragödie der Struma“ beschrieben hat. In Köln zeigte sie historische Fotos der Struma und von einigen ihrer jüdischen Passagiere.
Das Kölner Theater im Bauturm präsentiert seit September 2021 schließlich auch noch eine Bühnenfassung des Romans „Madonnas letzter Traum“, in der ebenfalls viele Namen von jüdischen Struma-Opfern genannt werden. Doğan Akhanlı hat an der eindrucksvollen dreistündigen Inszenierung noch persönlich mitgewirkt, die Premiere des Stücks aber leider nicht mehr miterlebt. Seine engagierten Bemühungen, an „untold stories“ der Holocaust-Geschichte wie die der Struma zu erinnern, sollten jedoch keinesfalls unerwähnt bleiben.

Karl Rössel (recherche international e.V., Köln)