Rezension: Max Merten – Jurist und Kriegsverbrecher

GERRIT HAMANN:

MAX MERTEN – JURIST UND KRIEGSVERBRECHER.
EINE BIOGRAPHISCHE FALLSTUDIE ZUM UMGANG MIT NS-TÄTERN IN DER FRÜHEN BUNDESREPUBLIK, GÖTTINGEN 2022

Am 10. Oktober 2016 stellte Bundesjustizminister Heiko Maas die Ergebnisse eines Gutachtens vor, das sich mit der weitestgehenden Kontrolle seines Hauses durch ehemalige Nationalsozialisten in den ersten Nachkriegsjahrzehnten beschäftigte. Und der Minister gab sich bedrückt über das Erfahrene, das Ausmaß der Kontrolle des in der sog. „Rosenburg“ in Bonn residierenden Bundesjustizministeriums durch „alte Kameraden“, ihren Einfluss auf die Gesetzgebung, die Besetzung so vieler leitender Posten mit ehemaligen Nationalsozialisten. Einer der sieben von ihm als besonders skandalös herausgehobenen Fälle von leitenden Ministerialbeamten mit NS-Vergangenheit in der „Rosenburg“ war der des ehemaligen Kriegsverwaltungsrats Max Merten, 1959 in Athen zu 25 Jahren Haft verurteilt wegen seines Beitrags zur fast vollständigen Vernichtung der jüdischen Gemeinde von Thessaloniki in den Todeslagern von Auschwitz und Treblinka. Über ihn hieß es in der Dokumentation „Die Akte Rosenburg“: „Max Merten, von 1942 bis 1944 Kriegsverwaltungsrat beim Befehlshaber der Wehrmacht in Thessaloniki, wo er als Leiter der Abteilung ‚Verwaltung und Wirtschaft’ einer der Organisatoren der Ausplünderung und Deportation von mehr als 50 000 Juden war – also einer der größten deutschen Kriegsverbrecher.“ Gleichwohl, so stellt die Untersuchung weiter fest, stellte ihn 1952 das Bundesjustizministerium als Referatsleiter für das Recht der Zwangsvollstreckung wieder in den Dienst ein.

Dabei hatte es sich eher um einen der harmlosen Fälle von Wiederbeschäftigung ehemaliger Nazis im westdeutschen Staatsdienst gehandelt, denn viel anrichten konnte er in seiner Position im Justizministerium nicht. Interessant aber, dass eben dieser Merten mit seiner lange bekannten Biographie hier nun, über 70 Jahre nach seiner Tat und 45 Jahre nach seinem Tod, auf einmal ganz offiziell zu einem der „größten deutschen Kriegsverbrecher“ avancierte. Hatte doch noch 1959 der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann diesem Kriegsverbrecher zur Befreiung aus einem griechischenGefängnis verholfen und ihn so davor bewahrt, eine 25jährige Haftstrafe in Athen abzusitzen. Und 1968 stellte das Berliner Landgericht ein Ermittlungsverfahren gegen Merten wegen des Verdachts der Beihilfe zum Mord an 50 000 Juden ein, es sei nicht nachweisbar, dass er gewusst habe, welchem Schicksal die mit seiner tatkräftigen Hilfe deportierten Juden in Auschwitz entgegengingen. So konnte er, endgültig außer Verfolgung gesetzt, seinem Beruf als Anwalt unbehelligt weiter nachgehen, bis zu seinem Tod im Jahr 1971. Jetzt ist, mehr als 50 Jahre nach seinem Tod, über den Kriegsverbrecher Max Merten die endgültige Biographie erschienen, zugleich als Fallstudie zum Umgang mit NS-Tätern in der frühen Bundesrepublik vorgestellt, deshalb so umfangreich, 792 Seiten.

Die Literatur über den 1942/44 in Thessaloniki amtierenden Kriegsverwaltungsrat Max Merten war über viele Jahrzehnte eher spärlich, einem Übeltäter diesen Kalibers nicht angemessen. Aber er stand damit ja nicht allein. Heute aber arbeiten sich etliche Historiker an der Erforschung der Lebensläufe von Altnazis ab, die sehr lange, allzu lange nicht nur juristisch, sondern auch historiographisch mehr oder weniger unter Täterschutz standen. Wie eben dieser Max Merten. In seiner Biographie ist jetzt allerlei schon Bekanntes zu lesen, manches lediglich in größerer Ausführlichkeit, vieles aber, das bisher kaum bekannt war, weil so manche Aktenbestände in den einschlägigen Archiven nicht zugänglich waren. Der Doktorand Gerrit Hamann – bei dem dicken Buch handelt es sich um seine 2019 an der Universität Göttingen abgeschlossene, etwas überarbeitete Dissertation – hat da sehr gründlich Einblick genommen. Wir können das hier nur zu den wichtigsten Themen tun, Kapitel für Kapitel.

Erster Teil: Eine Juristenkarriere im „Dritten Reich“ – beginnt in der Weimarer Republik, der exemplarische Werdegang eines Opportunisten: bis 1933 politisch aktiv in der liberalen Partei Gustav Stresemanns, der Deutschen Volkspartei (DVP), das war der Karriere förderlich. 1933 Kehrtwende nach rechts, Mitgliedschaft im Bund nationalsozialistischer Juristen (später NS-Rechtswahrerbund), 1937 Beitritt zur NSDAP, mit anderen Worten: vom Nationalliberalen zum Nationalsozialisten. Widmet sich im Reichsjustizministerium der nationalsozialistischen „Rechtserneuerung“.

Zweiter Teil: „König von Mazedonien“, beginnt mit Mertens Eintritt in die Wehrmacht im Januar 1942, ab August 1942 eineinhalb Jahre an der wichtigsten Wirkungsstätte seines Lebens, als Kriegsverwaltungsrat (KVR) in Thessaloniki, im Bereich des Befehlshabers Saloniki-Ägäis, wo die Mehrzahl der griechischen Juden wohnt. Ihre Deportation und Ermordung sei das am besten erforschte Kapitel der deutschen Besatzungsherrschaft in Griechenland, schreibt Hamann – eine Einschätzung, der der Rezensent nicht zu folgen vermag, die Forschungslücken betreffend das Kapitel Raub und Aneignung des jüdischen Vermögens und das der Entschädigung sind groß bis heute. Zur Rolle Mertens: Sein Dienstgrad ist niedrig, doch verfügt er über einen Posten mit Einfluss und Macht. Nicht umsonst betont einer von Eichmanns Emissären, SS-Hauptsturmführer Dieter Wislizeny (ab 6. Februar 1943 mit Alois Brunner Leiter des Sonderkommandos für Judenangelegenheiten in Thessaloniki) vor seiner Hinrichtung in Prag 1947 die wichtige Rolle Mertens für die Abwicklung der Deportation. Auch wenn Merten bei den ersten Verfolgungsmaßnahmen nicht mitgewirkt hat, sie fanden vor seinem Eintreffen im August 1942 statt, wie Hamann einige falsche Berichte korrigiert, wohl aber bei der Erpressung eine immensen Lösegeldes, das die jüdische Gemeinde für die Heimholung von mehreren tausend Zwangsarbeitern zahlt, die von der Organisation Todt zum Straßenbau unter unmenschlichsten Bedingungen herangezogen worden waren und dort in großer Zahl elend verreckten – die „Heimkehr“ eine Wohltat nur auf den ersten Blick, bedeutete sie doch in Wirklichkeit nur einen kurzen Zwischenstop vor dem Abtransport in die Todeslager. Und weil die von Merten geforderten 3,5 Milliarden Drachmen (umgerechnet 4,375 Millionen RM) nicht in voller Höhe aufgebracht werden konnten, erzwang Merten die Auslieferung des jüdischen Friedhofs an die griechische Verwaltung, eine bekannte düstere Geschichte. Der Verbleib des räuberisch erpressten Lösegeldes ist bis heute großenteils ungeklärt, auch bei Hamann, Mertens möglicher Anteil ebenso. Desgleichen ungeklärt übrigens (und bei Hamann gar nicht erst angesprochen) der Verbleib jenes Fonds, dem (laut Auskunft des Generalkonsuls Schönberg an das AA vom 23. März 1943) das „den ausgesiedelten Juden“ vor ihrer Deportation abgenommene bewegliche und unbewegliche Vermögen zuzuführen war, um daraus die Transportkosten zu begleichen. Sicher ist nur: erstattet wurden all diese Raubgelder bis heute nicht. Sie werden, meint Hamann, auch weiterhin eine Rolle im deutsch-griechischen Verhältnis spielen (nachdem, z.B., die Deutsche Bahn AG, als Nachfolgerin der Deutschen Bahn AG, sich bis heute weigert, die Fahrkarten nach Auschwitz zurückzuerstatten.)

Wie hoch die Mandanten-Honorare für die Kanzlei Heinemann&Posser waren, erfahren wir nicht. Jedenfalls aber, dass die Gelder reichlich flossen, und wieviel es die Bundesregierung den Steuerzahler insgesamt kosten ließ, dem Kriegsverbrecher Merten unbegrenzten Rechtsschutz zu gewähren (und das hieß: Täterschutz in einer juristisch höchst anrüchigen Weise, aber dies auch in einer Unzahl anderer Fälle). Da lesen wir, dass vier Rechtsanwälte gleichzeitig auf Kosten des Rechtsschutzfonds des Auswärtigen Amts beschäftigt wurden. Geschildert wird auch das Maß an Betreuung, das Merten in seiner Athener Haftzeit von amtlicher deutscher Seite zuteil wurde, allein 16 000 Mark von April 1957 bis Oktober 1959 für einen angenehmen Aufenthalt im Averoff-Gefängnis, täglich warmes Essen aus einem nahegelegenen feinen Restaurant; die Sicherung einer frühzeitigen Heimkehr nach nur wenigen Monaten statt 25 Jahren Strafhaft; bis hin zu der Einstellung eines Ermittlungsverfahrens in Berlin, das zur Farce geriet, nach sechs Jahren – all das habe mindestens (nachgewiesene) 264 000 Mark gekostet. Eher belanglos, dass Merten später vom Bezirksamt Berlin-Schöneberg „für seine griechische Passionszeit“ eine „Heimkehrer-Entschädigung“ zugesprochen bekommen und den ersten Beihilfebetrag von 300 Mark kassiert habe (wie der Spiegel berichtete, Nr. 32/1961, S. 63), wie der Autor erwähnt, aber wir lesen auch, dass es mit diesem Betrag sein Bewenden hatte, das Amt verweigerte weitere Zahlungen.

Wie es den vereinten Bemühungen der Anwälte und des Auswärtigen Amtes am Ende gelang, den am 5. März 1959 vom Athener Militärgericht zu 25 Jahren Haft verurteilten Merten bereits im November freizupressen, das konnte, wer wollte, schon in der Magisterarbeit von Susanne-Sophia Spiliotis aus dem Jahre 1991 in allein Einzelheiten nachlesen („Der Fall Merten, Athen 1959. Ein Kriegsverbrecherprozess im Spannungsfeld von Wiedergutmachungs- und Wirtschaftspolitik“, München LMU 1991), die Hamann zu Recht „die bislang gehaltvollste Auseinandersetzung mit dem Fall Merten“ nennt. <Eine Arbeit, die erst seit kurzem digital zugänglich ist,>

Kein gutes Haar lässt Hamann an einer weiteren Arbeit zu Merten – sie soll hier erwähnt sein, weil sie allzu häufig unkritisch als wichtige Quelle zum Fall Merten angepriesen wird, in der Regel wohl ohne vorherige Lektüre: eine Dissertation, verfasst von Wolfgang Breyer, einem Schüler des Historikers Heinz A. Richter: Dr. Max Merten. Ein Militärbeamter der deutschen Wehrmacht im Spannungsfeld zwischen Legende und Wahrheit, Mannheim 2003. Breyer missachte fast durchgehend wissenschaftliche Standards, stellt Hamann fest, bescheinigt ihm „sprachliche Unzulänglichkeiten, ständige Redundanzen und diverse formale Fehler, eine völlig ungenügende Quellen- und Literaturbasis, zahlreiche sachliche Fehler sowie historisch und juristisch zweifelhafte, oftmals sehr oberflächliche und unwissenschaftliche Bewertungen, die vereinzelt geradezu apologetisch anmuten… Geradezu befremdlich, wenn Wolfgang Breyer Merten als ‚kleinen Fisch‘ bezeichnet und sein Doktorvater Heinz Richter gar behauptet, Merten sei kein Kriegsverbrecher, sondern unschuldig gewesen.“

Von den in Hamanns Arbeit mitgeteilten geradezu astronomischen Kosten für die Merten-Rechtshilfe war die Rede, es sei an dieser Stelle auch ein anderer Betrag erwähnt, der in einem Buch über einen Täter und seinen Täterschutz nicht unbedingt etwas zu suchen hat: Was der im Bundesfinanzministerium für Opfer-Entschädigungsfragen zuständige Altnazi Ernst Féaux de la Croix bei Verhandlungen mit Athen als Haftentschädigung für diejenigen festgesetzt hatte, die die mit tatkräftiger Hilfe des Max Merten organisierte „Aussiedlung“ ins Generalgouvernement überlebten: fünf Mark pro Tag in der Hölle von Auschwitz. Und auf die Rückerstattung des Fahrgelds für die Reise der 50 000 in die Hölle wartet man bei der jüdischen Gemeinde von Thessaloniki bis heute.

Fünfter Teil: Mertens Kampf um die Rehabilitierung

Wir erfahren hier in aller Breite, wie er zur Störung der deutsch-griechischen Beziehungen beitrug, aus Wichtigtuerei, wie er mit unglaublichen Lügengeschichten bis in einige „Leitmedien“ vordrang, wie er seine Story über Adenauers Kanzleramtschef Globke (an dessen braune Vergangenheit anknüpfend, und vielleicht in stiller Absprache mit Organen der DDR) erfolgreich plazierte – der habe seinen Versuch verhindert, mithilfe von Adolf Eichmann einen Teil „seiner“ Juden zu retten (woran sich Eichmann in seinem Jerusalemer Prozess, in dem Merten doch tatsächlich als Zeuge aus der Ferne auftrat, partout nicht erinnern mochte); wie er das deutsch-griechische Verhältnis nachhaltig störte mit seinen Geschichten über griechische Politiker im Amt, allen voran Ministerpräsident Karamanlis, denen er großzügige Geschenke gemacht haben will aus dem geraubten jüdischen Vermögen, eine bis heute unbewiesene Geschichte.Und Hamann dokumentiert aus den Archiven, wie das Auswärtige Amt auf dem Höhepunkt der von Merten ausgelösten Affairen versuchte, die Medien davon abzubringen, u.a. von der Kanzlei Heinemann&Posser lancierte Merten’sche „fake news“ zu verbreiten, z.B. einen Werner Höfer durch direkte Intervention davon abzubringen, dem oppositionellen griechischen Journalisten Basil Mathiopoulos im Internationalen Frühschoppen ein Forum zu geben, wenn auch ohne Erfolg.

Dass das Medien-Getöse um diesen Max Merten damals leider kein Anlass war, neben der Berichterstattung über die deutsch-griechische Verstimmung auch ein wenig über das Schicksal von Mertens Opfern zu berichten, die Shoa von Thessaloniki aufzuarbeiten, wenigstens erinnerungspolitisch, steht auf einem anderen Blatt, und wie lange das am Ende gedauert hat. So glaubte es sich Bundespräsident Johannes Rau noch im Jahr 2000 auf Staatsbesuch in Griechenland leisten zu können, bei einem Abstecher nach Thessaloniki zwar der Deutschen Schule einen Besuch abzustatten, um das jüdischen Gemeindehaus und den Gedenkstein für die Shoa-Opfer aber einen großen Bogen zu machen. Ob er fürchtete, nach Max Merten gefragt zu werden, seinem ehemaligen Parteifreund aus den Zeiten der Gesamtdeutschen Volkspartei? In den deutschen Leitmedien für diese Brüskierung der griechischen Juden gerügt zu werden, fürchtete er offenbar nicht. Zu Recht – sie schwiegen damals, im Unterschied zu den griechischen, Weshalb diese Geschichte auch dem Autor unserer Merten-Biographie bis heute unbekannt geblieben sein mag. Und deshalb hier noch einmal zur Sprache kommen sollte.

Exantas Heft 35 Oktober 2022