Deutsche Erblasten im jugoslawischen Bürgerkrieg

Der Balkan steht in Brand. Manche sprechen bereits von einem neuen Balkankrieg 1); amerikanische Analytiker rechnen mit einer Ausbreitung der Krise auf die Regionen Kossovo und Westmakedonien und mit einem Eingreifen Albaniens Griechenlands und Bulgariens 2), in Ankara ist bereits von einer (von den USA gewünschten) Intervention auch der Türkei die Rede 3). Kurz: der Balkan macht, nicht zum erstenmal, seinem Namen als sprichwörtliches Pulverfaß auf traurige Weise Ehre. Und für die meisten deutschen Beobachter steht der allein Schuldige fest (auch dies nicht zum erstenmal) 4). „In dieser blutigen Tragödie gibt es nur einen wirklichen Schurken, und der heißt Serbien“, schrieb z.B. der Kommentator eines Nachrichtenmagazins im April 5), und er sprach damit einem breiten Publikum aus der Seele.

Diese Sicht der Vorgänge auf dem brennenden Balkan ist ebenso einfältig wie bequem. Bequem vor allem für Deutsche, weil sie (zum einen) Denkanstrengungen über tragfähige politische (und das heißt: nichtmilitärische) Lösungen für eine überaus komplexe Situation erspart, weil sie (zum zweiten) einen Sündenbock liefert, dem man das Dilemma allein anlasten kann, und weil sie (zum dritten) jenen Beitrag weiter verdrängen hilft, den Deutschland zur Entstehung der jetzt so ausweglos erscheinenden (scheinbar nur noch mit einer Militär-Intervention von außen lösbaren) Situation geleistet hat. Und dieser Beitrag ist in Deutschland so erfolgreich verdrängt worden, daß sich manche Medien hierzulande keinen Vers darauf machen konnten, als im vergangenen Herbst in Belgrad antideutsche Slogans und Hakenkreuze in Demonstrationen auftauchten, sondern lediglich einen (scheinbar unerklärlichen) „Anti-Germanismus“ in Serbien ausmachten 6). Dabei gehört zu jenem historischen Hintergrund, vor dem die gegenwärtige Eskalation des Hasses in Jugoslawien sich entfaltet, eben auch eine deutsche Erblast. Woran die Belgrader Demonstranten erinnern wollten, war dies: daß es das deutsche Reich gewesen ist, das 1941 den gerade zwei Jahrzehnte alten jugoslawischen Staat zerschlagen und damit ein Blutbad ausgelöst hat, das bis heute nicht vergessen ist.

Nun zerfällt Jugoslawien erneut, diesmal wohl für immer, und wieder haben die Deutschen ihre Hand im Spiel.

So sieht es aus Belgrader Perspektive aus, das Szenario. Und der Schurke in diesem Stück, der sitzt in Bonn. Auch dies eine verengte Perspektive, eine paranoide Schuldzuweisung, gewiß, aber begreiflich vor dem historischen Hintergrund. In jedem Fall haben die deutschen Initiativen den schnellen und unkontrollierten Zerfall Jugoslawiens begünstigt und das psychologische Bürgerkriegs-Klima in Jugoslawien angeheizt, Öl ins Feuer gegossen. Wobei bezweifelt werden muß, daß Bonn hier lediglich dem (vor allem vom hemmungslosen antiserbischen KampagnenJournalismus der „FAZ“ erzeugten) innenpolitischen Druck gefolgt ist 7), bzw. jenem traditionellen deutschen Serbenhaß, den die Berliner „Times“-Korrespondentin Anne McElvoy unlängst ausgemacht hat 8).

Es gibt schließlich auch ebenso traditionelle machtpolitische Interessen Deutschlands auf dem Balken. Der Staat, der 1941 vom nationalsozialistischen Deutschland zerschlagen wurde, war alles andere als ein konfliktfreies Gemeinwesen. Er hatte ein schwieriges Erbe angetreten. Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches (später auch die Auflösung der Donaumonarchie) hatten auf dem Balkan ein heilloses Chaos zurückgelassen, das die großen Mächte nutzten, um ihre je unterschiedlichen Interessen durchzusetzen, Einflußsphären abzustecken. Die auf der Berliner Konferenz von 1878 unter der angeblich neutralen Schirmherrschaft des „ehrlichen Maklers“ Bismarck geschaffene neue Ordnung spiegelte die Machtverhältnisse im alten dynastischen Europa wider und entsprach nicht im entferntesten dem, was die Politiker heute, wann immer es ihnen ins realpolitische Kalkül paßt, unter der wohlklingenden Formel vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ verkaufen. Und das galt auch für spätere Balkan-Konferenzen, in denen es um die Aufteilung der gelegentlich mit einem Leopardenfell verglichenen Balkanhalbinsel ging.

Allein die Art und Weise, wie man mit den kompakt albanisch bewohnten Regionen im südlichen Serbien und in Westmazedonien umging, mag das illustrieren. Heute sind die Autonomie-Bestrebungen im noch serbischen Kossovo eines der brisantesten Probleme auf dem Balkan, die Anwesenheit eines mindestens 30%igen albanischen Bevölkerungsanteils im Westen der neugegründeten Republik Makedonien ist es ebenso. Der Berliner Kongreß und die Balkankriege hatten also ebensowenig wie zwei Weltkriege gelöst, was die Auflösung des Osmanischen Reiches und der Untergang der Donaumonarchie auf dem Balkan an Problemen hinterlassen hatten. Die Einigung der Südslawen (mit der Ausnahme Bulgariens) und die Gründung des südslawischen Staates im Jahre 1918, erfolgt vor allem auf Initiative der Kroaten, stand so von Anfang an unter keinem guten Stern. Das Übergewicht der Serben und ihr Hegemonie-Anspruch belastete die „Republik der Serben, Kroaten und Slowenen“, wie der Staat sich zunächst nannte, schon bald, die Ermordung des kroatischen Oppositionsführers Stjepan Radic im Belgrader Parlament (1928) durch einen Extremisten aus Montenegro ebenso wie das Attentat der Ustascha auf König Alexander I. im Jahr 1934 waren sichtbare Signale der Krise im Staat der Südslawen.

Dennoch: Bis zum Jahr 1941 hatten die slowenischen, kroatischen, serbischen, bosnischen, montenegrinischen und sonstigen Vettern einigermaßen friedlich zusammengelebt. Das Eingreifen des Deutschen Reiches in diese prekäre Ordnung löste mörderische Konflikte aus, die bis heute nicht überwunden sind, die vielmehr, nachdem sie viereinhalb Jahrzehnte von der harten Hand des Belgrader Regimes unterdrückt worden waren, jetzt wieder aufgebrochen sind. Wenn auch die Karten anders verteilt sind als damals in den 40er Jahren. Damals hatte Hitler einen „Unabhängigen Staat Kroatien“ ins Leben gerufen, der in Wirklichkeit alles andere als unabhängig war, und den Chef der faschistischen „Ustascha“ Bewegung, Ante Pavelic, an seine Spitze gestellt.

Pavelic, eine kroatische Mischung aus Hitler und Mussolini, wurde von seinen Anhängern Poglavnik, Führer, genannt, wie seine großen Vorbilder, und er gab sich auch alle Mühe, ihnen nachzueifern. Bis hin zum Massenmord an Serben, Juden und Roma, umgebracht in den Vernichtungslagern von Jasenovac, Loborgrad, Stara Gradiska und anderswo. Ein Genozid, der, im Unterschied zum deutschen Judenmord, nicht fabrikmäßig und bürokratisch, heimlich in Lagern unter weitgehendem Ausschluß der Öffentlichkeit stattfand, sondern für jedermann sichtbar und mit sichtbarer Lust am Töten. Es gab Wettbewerbe, bei denen preisgekrönt wurde, wer in kürzester Zeit am meisten Serben-Kehlen durchschnitten hatte, einer der Aktivisten soll es einmal auf über tausend pro Tag gebracht haben. Die Greuel waren derart, daß es selbst einen SS-Beobachter entsetzte.

Doch seine warnenden Berichte (er fürchtete, zu Recht, daß das Verhalten der Ustascha den Partisanen Auftrieb geben würde) hatten in Berlin nicht den gewünschten Erfolg. Hitler sah die blutigen Auseinandersetzungen mit Wohlwollen und sprach sich dagegen aus, „dem Treiben der Kroaten gegen die Serben… in den Arm zu fallen“, und äußerte seinen Beifall über die „Verringerung der außerordentlich starken serbischen Minderheit in Kroatien“ 9). Wieviele Serben, Juden und Roma dem Blutrausch der Kroaten damals zum Opfer fielen, ist nie genau festgestellt worden – serbische Geschichtsbücher sprechen von 600 000 Schlachtopfern 10). In einer Kirchengeschichte ist (eine vorsichtige Schätzung) von insgesamt 350 000 ermordeten Serben die Rede 11). Dort findet sich diese grauenhafte Tatsache aus gutem Grund: es gehörte nämlich die katholische Kirche, neben dem Deutschen Reich, zu den Hauptverantwortlichen dieses Genozids – während die Deutschen mit der Begründung des kroatischen Ustascha-Staats die Voraussetzung schufen für den ungehemmten Massenmord, hatten Kirchenführer in Hirtenbriefen die Rechtfertigung für die Bluttaten liefern helfen. Und ein katholischer Oberhirte äußerte z.B. Verständnis für die Taten seiner Schäflein – es wären schließlich serbische und jüdische Ärzte gewesen, die in Kroatien die meisten Abtreibungen ausgeführt hätten 12).

Ein Professor der katholischen Theologie mit Namen Guberina bezeichnete Kroaten, die gegen die Greuel der Ustascha ihre Stimme erhoben, als „geistige Zwerge“ und bezeichnete es als das natürliche Recht des kroatischen Volkes, „seinen Organismus von Gift zu reinigen“, „seine Gegner mit dem Schwert zu vernichten“ 13). Und die Kirche beschränkte sich nicht auf verbale Beteiligung am Genozid: „Bis jetzt haben wir dem katholischen Glauben nur mit dem Gebetbuch und dem Kreuz gedient. Die Zeit ist gekommen, dies mit Gewehr und Pistole zu tun“, rief ein Priester namens Mate Mugos seine Kollegen auf 14). Zahlreiche Mönche und Priester legten dann auch eifrig selbst mit Hand an beim Schlachten – mit Dolchen und Knüppeln mordeten sie fleißig mit 15), und der Vatikan schwieg dazu.

Mit anderen Worten: ohne deutsche Hilfe und deutsches Wohlwollen hätten die Kroaten ihren Serbenmord nicht verrichten können, ohne den Segen der Kirche (als fromme Katholiken) nicht verrichten wollen. Für die Kirche jedenfalls war 1941 die Gründung des UstaschaStaats durch die Achsenmächte ein wahres Himmelsgeschenk, konnten sie doch nun endlich die orthodoxen Häretiker auf den Weg des rechten Glaubens zurückführen. Nur etwa die Hälfte der Einwohner des Ustascha-Kroatien waren katholisch, immerhin fast 2 Millionen aber serbisch-orthodox. Und so machten sich vor allem die Franziskaner eifrig daran, aus den Serben gute Katholiken zu machen. Anders als in Mitteleuropa, wo der Name Franziskaner für Armut und Sanftmut steht, sind die Brüder in der braunen Kutte mit der Kapuze in Kroatien militante Missionare an einer uralten Grenze zwischen katholischer „Rechtgläubigkeit“ und ostkirchlicher „Häresie“ – Kroatien war und ist für sie eine Bastion des Katholizismus an der Grenze zum orthodoxen Orient.

So waren sie denn auch, als der Ustascha-Staat von Hitlers und Mussolinis Gnaden entstand, alsbald als Berater an der Seite des Führers zu finden, so der Franziskaner Radoslav Glavas. „Christus und die Ustaschi, Christus und die Kroaten marschieren gemeinsam durch die Geschichte“, hieß es in der katholischen Zeitung Nedelja 16). Und sie marschieren immer noch, könnte man hinzufügen. Z.B. bei Kampfdemonstrationen in Deutschland, Seite an Seite mit den Anhängern der neuen Ustascha. Nach dem Ende des Dritten Reiches, der Auflösung der „Unabhängigen Republik Kroatien“ und der Wiederbegründung des jugoslawischen Staates durch Titos siegreiche Partisanen hatte es zwar eine blutige Abrechnung mit der Ustascha gegeben. Im Exil jedoch bestanden ihre Nachfolgeorganisationen weiter, vor allem in Deutschland, wo sie unter den kroatischen Gastarbeitern agitiert. Und allein die Tatsache, daß der deutsche Staat heute noch ihr unverhohlenes Treiben stillschweigend duldet, bestätigt die Serben in ihren Ängsten. In aller Öffentlichkeit verbreiten kroatische Klerikal-Faschisten aufwendige Landkarten von Großkroatien in den Grenzen von 1941, mit dem Konterfei des Faschistenführers Ante Pavelic, zusammen mit Portraits des früheren Zagreber Erzbischofs Stepinac, desselben Stepinac, der den Machtantritt der Faschisten in Kroatien im April 1941 mit einem landesweiten te deum zu feiern befahl.

Die chauvinistische Propaganda in Deutschland tätiger kroatischer Franziskaner-Patres tut ein übriges. Und das Schlimme daran ist, daß das offensichtliche Wohlwollen, das selbst noch den kroatischen Extremisten und ihren großkroatischen Ambitionen in einem Land entgegengebracht wird, das in der EG in Sachen Jugoslawien, wie es momentan den Anschein hat, tonangebend ist, vielen Serben Angst macht, sie in der Vorstellung bestärkt, in einer Welt allein gegen alle zu stehen, und so ihre Bereitschaft stärkt, ihr Heil allein in einer militärischen Desperado-Politik zu suchen. Und es war nicht zuletzt die deutsche Parteinahme, vor allem die zuerst aus Bonn kommende Drohung mit der diplomatischen Anerkennung Kroatiens, die den Scharfmachern in Serbien Auftrieb gab und dort die Bereitschaft auslöste, eine militärische „Lösung“ zu suchen für die „serbische Frage“. Jetzt setzen die militärischen Führer der Bundesarmee alles auf eine Karte, ohne Rücksicht auf das, was nachher kommt. Die Brutalität, mit der sie ihre strategischen Ziele verfolgen, nämlich die Schaffung rein serbischer Siedlungsgebiete in Kroatien und Bosnien, ist geeignet, alle jene (besonders im Dritten Reich gepflegten) antiserbischen Vorurteile zu bestätigen, wie sie seit dem Mord von Sarajevo in Deutschland im Umlauf sind. Greueltaten der kroatischen Seite, wo es Freischärler gibt, die ihren serbischen counterparts in nichts nachstehen, werden ungern bis gar nicht zur Kenntnis genommen. Auf kroatischer Seite hat die deutsche Rückendeckung ihre Wirkung nicht verfehlt.

Die nationalistische politische Führung Kroatiens hat den bewaffneten Konflikt mit der serbischen Seite bewußt herausgefordert, um eine möglichst schnelle Anerkennung eines unabhängigen kroatischen Staate s zu erreichen, und zwar in den Grenzen von 1945, ungeachtet der Tatsache, daß auf diesem Territorium mehr als eine halbe Million Serben lebten 17). Und die EG hat, im Schlepptau der Bonner Anerkennungs-Kampagne, diese Politik bestärkt. „Europa hat den Slowenen und Kroaten kaltblütig gesagt, erlaubt die Tötung einer Anzahl von Menschen eurer Bevölkerung, und wir werden euch das Recht geben, souveräne Staaten zu sein“, so brachte der Zagreber Philosophie-Professor Zarko Puhovski die fatale Politik Bonns auf den Begriff 18). Und in Zagreb hat die politische Führung serbische Ängste bewußt gefördert, indem sie demonstrativ die Rechte der Serben im neuen kroatischen Staat beschnitt – die erste Entscheidung des neu gewählten kroatischen Parlaments. Niemand hätte es besser wissen können als die Deutschen, als die Bonner Außenpolitiker, was sich in Jugoslawien mit der Auflösung des Bundesstaates zusammenbraute, und niemand hätte besser wissen müssen als die Deutschen selbst, wie fatal gerade ihr einseitiges Engagement sich auswirken mußte – der holländische EG-Ratspräsident Hans van den Broek hatte nur zu recht, als er Anfang September der deutschen Seite eine Mitschuld an der weiteren Eskalation der Kämpfe in Kroatien zuwies.

In Bosnien-Herzegowina wiederholte sich, im vorhinein absehbar, das gleiche Spiel. Der frühere osmanische Verwaltungsbezirk (vilayet) dieses Namens, später vorübergehend unter österreichisch-ungarischer Besatzung, stellt so etwas wie ein Jugoslawien im Kleinen dar, mit fast allen Gegensätzen des ursprünglichen, in Auflösung befindlichen großen – Katholiken, Orthodoxe, Moslems, die alte Rechnungen zu begleichen haben und die historische Gründe haben, einander zu hassen (und diesen Haß nur für eine Weile begraben haben). Dieses heterogene Gebilde erklärt, nach einem Referendum, seine Unabhängigkeit, gegen den erklärten Willen eines Drittels der Bevölkerung, nämlich der Serben. Und wieder macht sich Deutschland als erstes EG-Land für die völkerrechtliche Anerkennung stark, obwohl, und das war allseits bekannt, Kroaten und Serben ihrerseits bereits heimlich und hinter dem Rücken der numerisch stärksten Bevölkerungsgruppe, der Muslime, über die Aufteilung des neuen Staatswesens verhandelten. Jetzt wird die Aufteilung des Kuchens ausgeschossen, die furchtbaren Umstände kennen wir, nicht hingegen den Ausgang des blutigen Bruderkriegs.

Denn um Brüder handelt es sich, vergessen wir das nicht, sie sprechen die gleiche Sprache; was sie trennt, sind die je verschiedenen Gotteshäuser, in denen sie beten. Auch hier ist es ein Stück deutsche Geschichte, das die drei Volksgruppen jetzt dort auf ihre blutige Weise aufarbeiten.

Denn auch Bosnien-Herzegowina hatte zum „Unabhängigen Staat Kroatien“ von Hitlers Gnaden gehört, und auch dort gab es Vernichtungslager, wurden Serben, Juden und Roma massakriert, von katholischen Kroaten wie von muslimischen Bosniaken, Nachkommen der unter der Osmanenherrschaft aus materiellen Motiven zum Islam konvertierten serbischen Oberschicht. Unter ihnen hatten die Deutschen erfolgreich Kämpfer für die muslimische SS-Division „Handschar“ rekrutiert. In den befreiten Gebieten allerdings schlugen die unter dem Serben Draza Michailowitsch operierenden, royalistischen Tschetniki zurück, massakrierten (hier unter Duldung der italienischen Faschisten) muslimische und katholische Zivilisten.

Die Politik des divide et impera – Ustascha gegen Serben, Juden und Roma, Tschetniks gegen katholische und muselmanische Bosniaken, muslimische SS-Hilfstruppen gegen Serben und Juden – erwies sich am Ende im Sinne der Nazis als kontraproduktiv: Immer größere Teile der Bevölkerung stießen zu den Tito-Partisanen, die Mehrheit der Südslawen war zum erstenmal wirklich geeint. Die kommunistische Führung der Volksrepublik Jugoslawien hat später diesen Kredit wieder verspielt, die alten Gegensätze sind, spätestens seit Titos Tod, wieder aufgebrochen. Ein halbes Jahrhundert sozialistische Diktatur in Jugoslawien hat die von den deutschen Besatzern ausgelösten blutigen ethnischen Konflikte mehr oder weniger zugedeckt, aber nicht aufgearbeitet. Rechnungen sind offen geblieben, die heute beglichen werden. Staatschef Tito hatte vielleicht geglaubt, daß die Entfaltung des Sozialismus die religiösen und ethnischen Gegensätze eines Tages verschwinden lassen würde.

Nun ist der Sozialismus abgetreten, und die Konflikte brechen wieder auf wie eh und je. Und es gehörte schon eine gehörige Portion Naivität dazu, an ein friedliches Zusammenleben der Konfessionen und Ethnien in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens zu glauben. Indem man die sogenannten historischen Grenzen des alten Staatswesens beibehielt, die nie natürliche Grenzen waren, und sie einfach zu neuen, völkerrechtsverbindlichen Staatsgrenzen erklärte, hatte man neue Konflikte programmiert. Die Entwicklungen im postkommunistischen Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion hatten von Anfang an eindringlich unter Beweis gestellt, daß der Drang zu ethnisch und/oder religiös homogenen Gemeinwesen stärker war als alle Argumente wirtschaftlicher und politischer Vernunft. Und nichts konnte zu der Annahme berechtigen, daß der von der deutschen Besatzung entfesselte Fanatismus beim Kampf um die Erbmasse des jugoslawischen Staates nun plötzlich vergessen sein sollte. Im Gegenteil: wer auf diesem Klavier zu spielen verstand, konnte damit Politik machen. Das traf für die politischen Führer Tudjman und Milosevic genauso zu wie für die militanten Teile des Klerus. Von den Militärs gar nicht zu reden.

Dabei ist die bosnische Tragödie noch nicht die letzte, so ist zu fürchten. Etwas weiter südöstlich warten die lange unterdrückten Albaner auf die bislang verweigerte Unabhängigkeit (bzw. das Recht auf einen Anschluß an Albanien) ob diese Separation ohne Waffengewalt zu haben sein wird, ist mehr als zweifelhaft. Und dann ist da auch noch die neu gegründete Republik Makedonien, die außer ihrem Konflikt um das Namensrecht mit dem benachbarten Griechenland noch ein viel gravierenderes Problem mit in die Unabhängigkeit genommen hat: einen Bevölkerungsanteil von mindestens 30% Albanern, deren Abspaltung, unter „Mitnahme“ eines Teils des Territoriums nur noch eine Frage der Zeit sein dürfte, und wenn der Brand im Kossovo ausbricht, sind sie in jedem Fall dabei. Ein im Zweiten Balkankrieg ungelöst gebliebenes Problem auch dies. Jetzt wird, in einem „Dritten Balkankrieg“, das Gelände neu vermessen.

Und wie dieser Streit am Ende die balkanische Landkarte verändern wird, weiß keiner zu sagen. Es wird jedenfalls, wenn die Lösung von Dauer sein soll, auf eine weitestgehende Trennung der Religionen und Ethnien herauslaufen. Neue Grenzen wird es geben, große Bevölkerungsverschiebungen auch, Umsiedlungen. Eine schlimme Lösung, aber allemal besser, als das Gemetzel, dessen Zeugen wir gegenwärtig sind. Es gibt für solche Lösungen bekanntlich historische Vorbilder. Z.B. den Lausanner Vertrag von 1923, wo man die Umsiedlung von über eineinhalb Millionen Menschen zwischen der Türkei und Griechenland besiegelt hat. Hauptkriterium für den Bevölkerungsaustausch war dabei nicht das „Volkstum“, sondern die Religion. Am Ende hatten über eine halbe Million Moslems Griechenland in Richtung Türkei verlassen, über eine Million griechisch-orthodoxe Bürger die Türkei in umgekehrter Richtung. In kleinerer Zahl wurden auch Bevölkerungen zwischen Bulgarien und Griechenland ausgetauscht. Diese Völkerwanderungen schufen viel individuelles Elend und Leid.

Doch langfristig war’s zum Segen der an der Umsiedlung beteiligten Nationen. Griechenland wurde ein Staat mit einem zu 95% homogenen Staatsvolk, die Türkei war eine große Minderheit los und hatte es von nun an, nachdem die armenische Minorität fast vollständig ausgerottet worden war, nur noch mit den Kurden zu tun. Jedenfalls hat der Friedensvertrag von Lausanne den Griechen und Türken einen nun schon fast 70 Jahre währenden Frieden beschert, oder jedenfalls die Abwesenheit von offenem Krieg, sieht man ab von dem Stellvertreterkrieg auf Zypern, dessen Ursachen eben darin zu suchen sind, daß man die historische Lehre von Lausanne dort außer acht gelassen hat. Zum Optimismus ist kein Anlaß. Haß und Mißtrauen unter den verfeindeten Vettern sind groß, so groß wie zu Zeiten der Nazi-Besatzung und des Ustascha-Staats. Und sie werden es noch lange bleiben.

Die politischen Führer haben die Kontrolle über die diversen Freischärler- und Söldnertruppen und ihre selbstherrlichen Anführer längst verloren. Es besteht aber solange keine Hoffnung wie sich nicht alle streitenden Parteien der Scharfmacher in den eigenen Reihen entledigen, der politischen wie der militärischen. Und solange die großen und mittleren Mächte (vor allem die „Neuen“ im balkanischen Kräftespiel, Deutschland und die Türkei) nicht von der liebgewordenen Gewohnheit lassen, das Kampfgebiet vor allem als Einflußphäre zu betrachten, die Formel vom Selbstbestimmungsrecht auf den Lippen, Märkte und politische Vasallenstaaten im Sinn. Erst dann aber hätten Verhandlungen am Runden Tisch Aussicht auf dauerhaften Erfolg. Verhandlungen, in denen auch, vorbehaltlos, um neue Grenzen gesprochen werden muß, und in denen alle Beteiligten davon Abschied nehmen müssen, den Geschichtsatlas als Grundbuch zu betrachten.

Die Serben müßten sich, z.B., von der Vorstellung trennen, daß das (heute zu 90% albanisch bewohnte) Amselfeld als historisches Erbe für immer zu Serbien gehört; die Kroaten, z.B., von ihren großkroatischen Träumen und von der Vorstellung, keinen Fußbreit jenes Bodens aufzugeben, der ihnen aus dem zerbrochenen Jugoslawien jetzt zugefallen ist, ohne Berücksichtigung der Tatsache, daß dort auch mehr als eine halbe Million Serben leben. Wie auch immer das Ergebnis aussehen mag, man wird sich am Ende fragen: hätten wir dieses Resultat nicht auch ohne ein solches Meer von Blut haben können? Aber, auch dies eine Lehre aus der Geschichte: dem Vertrag von Lausanne von 1923 war ein langer, von rivalisierenden europäischen Mächten mit angezettelter Krieg vorausgegangen, mit fürchterlichen Opfern auf griechischer wie auf türkischer Seite. Geschichte wiederholt sich eben doch. Und, auch dies ist eine historische Erfahrung, die sich wiederholt: daß die Völker nichts aus ihr lernen.

1) Vgl. „Neue Zürcher Zeitung“, 6.6.1992, S. 3. 2) So Suzan Woodward vom Brooklyn Institute, in einem Interview mit der griechischen „Tachydromos“, 6.6.1992. 3) „Neue Zürcher Zeitung“, a.a.O. 4) Die „gleiche serbische Verbrecherclique, die gleichen Kreaturen, die… durch das Attentat von Sarajevo die Welt in ein namenloses Unglück gestürzt haben“, so hieß das früher (Adolf Hitler im „Völkischen Beobachter“, 7.4.1941). 5) „Der Spiegel“, 20/1992, S. 162. 6) Z.B. „Der Spiegel“, Nr. 38, 16.9.1991, S. 186: „Eine Welle von Anti-Germanismus fegt durch Rumpf-Jugoslawien, wie es ihn seit Kriegsende nicht mehr gegeben hat“, wunderte sich das Nachrichtenmagazin angesichts einer bei einer Demonstration gezeigten Genscher-Karikatur mit einem Hakenkreuz auf der Stirn und der Unterschrift: „Genscher gleich Ustascha.“ 7) So u.a. Wolfgang Wagner, in: „Europa-Archiv“, 2/1992, S. 38 u. 41. 8) Vgl. „Die Zeit“, 7.2.1992, S. 51. 9) „Die Ustascha-Verbände haben ihre Greueltaten nicht nur an männlichen und wehrfähigen Pravoslaven, sondern insbesondere an wehrlosen Greisen, Frauen und Kindern in der bestialischsten Weise begangen, Die von den Kroaten niedergemetzelten und mit den sadistischsten Methoden zu Tode gequälten Pravoslaven müssen schätzungsweise auf 300 000 Menschen beziffert werden… Zu bemerken ist hierbei, daß letztlich die katholische Kirche durch ihre Bekehrungsmaßnahmen und ihren Bekehrungszwang die UstaschaGreuel forciert hat, indem sie auch bei der Durchführung ihrer Bekehrungsmaßnahmen sich der Ustascha bedient hat. “ So ein Lagebericht des Chefs der Sicherheitspolizei und SD, Turner, an Heinrich Himmler (17.2.1942), zit. in: Vgl. Ladislaus Hory/Martin Broszat, Der kroatische Ustascha-Staat, 1941-1945, Stuttgart 1964 (Schriftenreihe der „Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte“, Nummer 8), S. 120. 9) A.a.O., S. 97. 10) Vgl, „Die Zeit“, Nr. 16, 14.4.1989, S. 10. Barbara Sichtermann nennt in der Rezension eines Buches des jugoslawischen Historikers und ehemaligen Tito-Kampfgefährten Vladimir Dedijer (Jasenovac – das jugoslawische Auschwitz und der Vatikan, Freiburg 1988) sogar die Zahl von 800 000 Ermordeten. „Die Zeit“, 17.2.1989, S. 50. 11) John McManners (ed.) The Oxford Illustrated History of Christianity, Oxford/New York (Oxford University Press) 1990, S. 543 f. 12) Gemeint ist der damalige Zagreber Erzbischof Stepinac, den Menachem Shelah von der Universität Haifa auf dem Londoner Holocaust-Kongreß von 1988 mit diesen Worten aus einem apologetischen Brief an den Vatikan zitierte, in dem er um Verständnis für die Taten seiner Schälein warb: „The Croation Government fought vigorously against obortion, which not only threatened to ruin Croatia, but also the Church, There were said to be 20 000 abortions annually, but a loyal Catholic physician told me that there were up to 60 000. The Orthodox authorities in Belgrade did nothing to stop this evil, which had been initiated primarily by Jewish and Orthodox doctors… The Croatian Government banned pornographic publications, which were also priniarily printed and distributed by Jews and Serbs…“ Zit. in: Yehuda Bauer et al. (ed.), Remembering for the Future. Working Papers and Addenda, Vol. 1, Oxford (Pergamon Press) 1989, S. 276. Und bei einem anschließenden Besuch im Vatikan wurde notiert, daß „the Archbishop justified tio some extent the measures employed against the Jews… „, a.a.O. 13) Vgl. Yehuda Bauer, a.a.O., S. 269: „The outstanding figure in the sphere of ideology was Ivan Guberina, a professor o Theology. In a series of articles Guberina attacked Croatians against Ustasa atrocities, calling them ’spiritual dwarfs‘, and arguing that it were the Croatian state and people’s natural right ‚to purge its organism of poisons‘.“ (Zitate nach: Tajni Dokumenti o odnosima Vatikana i Ustaske N.D.H., Zagreb 1946, S. 89 f.) 14) „Novi List“, 24.7.1941, zit. in: Yehuda Bauer, a.a.O., S. 269. 15) Besonders berüchtigt: der zeitweilige Kommandant des Vernichtungslagers Jasenovac, Miroslav Filipovic Majstrovic („Bruder Teufel“), hingerichtetim Juni 1945 (vgl. Hory u. Broszat, a.a.0., S. 175, sowie Yehuda Bauer, a.a.O., S. 269). 16) V. 6.6.1941. Zit. in: Ladislaus Hory, a.a.O., S. 94. 17) Ein Sprecher der kroatischen Friedensbewegung konstatierte, daß die kroatische Führung „das Risiko eines Krieges mit der Armee/Serbien bewußt einging, damit rechnend, die Anerkennung als Opfer schneller zu erlangen als auf einem anderen, administrativ komplizierten, legalen Weg“. Srdan Dvornik, in: „ARKzin“, Zeitung der Antikriegs-Kampagne Zagreb, 1/1991. Vgl. auch Jens Reuter, Internationalisierung der Jugoslawienkrise, in: Das europäische Jugoslawien, „Constructiv extra“, Berlin 1991, S. 10: „Kroatien mußte sich von Anfang an als das unschuldige Opfer einer brutalen Aggression darstellen, wollte es darauf hoffen, sein Ziel der Bildung eines unabhängigen Nationalstaates in den Grenzen der Republik jemals zu erreichen… Man wußte eben, daß man nur als Opfer einer Aggression das würde erreichen können, was in einem normalen politischen Prozeß innerhalb Jugoslawiens nicht möglich gewesen wäre.“ 18) In: Das europäische Jugoslawien, a.a.O., S. 24.