500.000 Leichen im Keller

Jüdischer Friedhof Thessaloniki

Der jüdische Friedhof von Thessaloniki: Heute nutzt die Universität den von Nazis und Einheimischen zerstörten und geplünderten Grund und Boden – und verweigert Erinnerung und Gedenken. Eine schändliche Geschichte.

Jüdischer Friedhof Thessaloniki
Einer der wenigen geretteten Grabsteine. | Foto: E. Rondholz

In den Mauern alter byzantinischer Basiliken kann man häufig als Baumaterialien verwandte Säulentrümmer zerstörter antiker Tempel erblicken, von Spolien sprechen Kunsthistoriker da, was soviel wie Beutestücke heißt. An einem großen christlichen Sakralbau in Thessaloniki, der Kirche des Heiligen Dimitrios, sind jüngst Spolien anderer Art entdeckt worden: bei Rekonstruktionsarbeiten verwendete jüdische Grabsteine, während der deutschen Besatzungszeit erbeutet auf dem alten jüdischen Friedhof.

Zwei solche Grabstelen von diesem Friedhof hat jetzt der Präsident der jüdischen Gemeinde, David Saltiel, dem Holocaust-Museum in Washington gestiftet, die feierliche Übergabe an die Generalkonsulin der Vereinigten Staaten, Cathrine Kay, fand dieser Tage auf dem neuen jüdischen Friedhof im Vorort Stavroupolis statt. Es sind wertvolle Reliquien. Es sind nur ein paar Dutzend solcher Grabsteine erhalten, die von einem der größten jüdischen Friedhöfe der Welt stammen, wo die Gebeine von rund 500.000 Sepharden ruhten, Nachkommen von der Inquisition zu Ende des 15. Jahrhunderts aus Spanien vertriebener Juden. Die Geschichte dieses Friedhofs ist fast vergessen, verdrängt vor allem in der Stadt, die einst die Heimat einer blühenden jüdischen Gemeinde war. Zu osmanischer Zeit, d.h. bis zur Einnahme Thessalonikis durch die Griechen im 1. Balkankrieg (1912/13) stellten die sephardischen Juden noch die Mehrheit der Bevölkerung der Stadt.

Geschätzt 300.000 Quadratmeter war ihr Friedhof groß. Anfang des 20. Jahrhunderts noch extra muros gelegen, vier Jahrzehnte später, nach dem Zuzug von mehreren hunderttausend Kleinasienflüchtlingen und dem rasanten Wachstum der Stadt, ein potentielles Stück Bauland im Zentrum von unschätzbarem Wert. Bis zum Einmarsch der Wehrmacht in Thessaloniki waren alle Versuche der Griechen, sich des Grundstücks zu bemächtigen, erfolglos geblieben.

Im Dezember 1942, die SS bereitete mit Hilfe der Wehrmacht die Deportation der über 50 000 Juden der Stadt nach Auschwitz vor, handelte der griechische Gouverneur Simonidis mit dem deutschen Kriegsverwaltungsrat Max Merten die Übernahme zunächst eines Teils des Friedhofsgeländes aus. Gräber aus den letzten drei Jahrzehnten sollten, wenigstens bis zur geplanten Deportation der Juden, unangetastet bleiben. Doch daran hielten sich die Griechen nicht, planierten sofort das gesamte Areal, ohne der jüdischen Gemeinde auch nur die Gelegenheit zu geben, wenigstens die Gräber aus jüngerer Zeit umzubetten. Es folgte die Plünderung des Friedhofsgeländes durch Bauunternehmer, die sich der marmornen Grabplatten bemächtigten. Es waren so viele, dass die lokalen Marmorpreise ins Bodenlose fielen. Damit nicht genug, kamen die Schatzgräber – in der Hoffnung, angeblich in den Gräbern versteckte Reichtümer der Juden zu finden.

Im April 1943 begann die Deportation der 50.000 Juden von Thessaloniki nach Auschwitz. Die wenigen Juden, die 1945 aus dem Todeslager heimkehrten, fanden Grabsteine ihrer Vorväter in Hauseingängen und auf Treppenstufen, auch auf Bürgersteigen, Stolpersteine, würde man hierzulande heute sagen. Ein paar Dutzend Marmorplatten konnten die Juden von Thessaloniki retten, sie sind heute auf dem neuen Judenfriedhof am Stadtrand zu besichtigen.

Von dem Judenfriedhof und seiner Geschichte wollen die meisten Bürger der Stadt Thessaloniki nichts mehr wissen. Verdrängt hat sie auch die Aristotelische Universität, die auf dem geraubten Friedhofsgelände errichtet wurde. Die aus einer alteingesessenen sephardischen Familie stammende Historikerin Rena Bensusan Molcho hat dafür das Wort von der Mnimoktonia, dem Mnemocid geprägt: Auslöschung der Erinnerung.

Ein wenig der Vergessenheit entrissen wurde die Geschichte des Friedhofs durch den Bau einer U-Bahn, der West-Ost-Tunnel wird teils durch ehemaliges Friedhofsgelände führen. Der Vorschlag der jüdischen Gemeinde, der Metro-Station den zusätzlichen Namen „Alter jüdischer Friedhof“ zu geben, stößt auf den Widerstand der alma mater.

Auf dem neuen jüdischen Friedhof im abgelegenen Vorort Stavroupolis kommen selten Besucher vorbei, um sich die geretteten Grabstelen vom alten jüdischen Friedhof anzusehen. Das Holocaust-Memorial in Washington hat jährlich mehr als eine Million Besucher, und dort wird man demnächst einiges über den vergessenen jüdischen Friedhof von Thessaloniki erfahren können, über die Zerstörung und Plünderung dieser Ruhestätte, über den Raub des Friedhofsgeländes und die Verweigerung jeder Entschädigung seitens der Stadtverwaltung, bis heute. Auch darüber, dass die Universität, die nach der Vernichtung der jüdischen Gemeinde auf dem ehemaligen Friedhofsgelände errichtet wurde, sich bis heute weigert, wenigstens eine kleine Gedenktafel auf dem Campus anzubringen, wie es, als einziges Mitglied des Lehrkörpers, der Dekan der Pädagogischen Fakultät, Jorgos Tsiakalos, seit Jahren fordert. Sie will offenbar nicht an die 500 000 Leichen im Keller erinnert werden.

Und noch etwas: David Saltiel hat dem Holocaust-Memorial zusammen mit den Grabstelen Kopien des von den Nazis geraubten Archivs der jüdischen Gemeinde gestiftet. Der größte Teil dieses Archivs fiel gegen Ende des 2. Weltkriegs der Roten Armee in die Hände, heute liegen die Originaldokumente im Moskauer Staatsarchiv. Die sonst um geraubtes eigenes Kulturgut so besorgte deutsche Regierung hat bis heute keinerlei Anstrengungen unternommen, Moskau zu einer Rückgabe der Originale an die Besitzer zu bewegen. Doch das ist eine andere sehr schändliche Geschichte.

Frankfurter Rundschau, 12.08.2010

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