Ehrensache

Viel ist die Rede in diesen Tagen von geraubten Bildern und Bibliotheken, mit erhobener Stimme fordert die Bonner Regierung von Rußland Beutegut aus dem Zweiten Weltkrieg zurück. Da darf man neugierig sein, wie sie sich im Fall eines anderen Schatzes verhalten wird, der ein halbes Jahrhundert nach seinem Raub durch das „Sonderkommando Rosenberg“ wiederaufgetaucht ist und um dessen Rückführung der Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches sich leicht mit Erfolg bemühen könnte: das Archiv der jüdischen Gemeinde von Saloniki.

Die jüdische Gemeinde von Saloniki war einst die bedeutendste im östlichen Mittelmeer. Ihre Mitglieder, überwiegend Nachkommen von Inquisitionsflüchtlingen aus Spanien, bildeten die größte Bevölkerungsgruppe der mazedonischen Metropole, Handelshäuser und Fabriken zählten zu ihrem Besitz. 1943 gelang es Wehrmacht und SS, diese traditionsreiche Gemeinde, damals noch 50 000 Menschen, fast vollständig einzufangen und in die Todeslager in Polen zu verschleppen. Bargeld und sonstige bewegliche Habe der Opfer plünderten die deutschen Besatzer, Bibliotheken und Kunstwerke ebenso wie die Warenlager der Geschäfte.

Die Organisatoren der Judendeportation, allen voran der Kriegsverwaltungsrat Max Merten, dürften dabei gewaltige Vermögen an sich gebracht haben. Auch die über zwanzig Synagogen räumten die Deutschen vor der Zerstörung aus, heute gibt es in der ganzen Stadt nur noch ein jüdisches Gotteshaus. Was nicht in deutscher Privathand oder in den Taschen von Kollaborateuren landete, wurde von der Wehrmacht verhökert, sie spielte Räuber und Hehler in einem. Die wenigen überlebenden Juden aber, die vor fünfzig Jahren heimkehrten mit ein paar Lumpen am Leib und einer Nummer auf dem Unterarm, brachte die Bundesrepublik Deutschland mit schäbigen Tricks um ein bißchen Entschädigung.

Zur Beute der Deutschen gehörte damals auch ein Objekt von hohem immateriellen Wert: das Gemeinde-Archiv. Dieses Archiv ist mehr als nur ein reicher Schatz an Primärquellen für die Geschichte der Stadt und ihrer jüdischen Gemeinde, aber eben auch das, und Geschichtsforscher, die sämtliche für die Erschließung dieser Quellen nötigen Sprachen beherrschen – Griechisch, Hebräisch, Judenspanisch -, gibt es dort noch.

Jahrzehntelang hatte man in Saloniki geglaubt, die nach Deutschland verschleppten Dokumente seien im Bombenkrieg vernichtet worden. Erst kürzlich kam heraus, daß ein Teil dieses Archivs von den vorrückenden sowjetischen Truppen in Deutschland entdeckt und (wahrscheinlich im Auftrag des KGB) nach Moskau gebracht worden ist, wo das Material bis heute aufbewahrt wird bei der Kommission für Archiv-Angelegenheiten der Russischen Föderation. Und nun bemüht sich die Gemeinde um Rückgabe ihres Eigentums, bis heute ohne Erfolg. Die Russen haben nämlich gemerkt, daß sich mit dem für sie bislang so wertlosen Papier Geld machen läßt – die Universität von Tel Aviv zum Beispiel, so erfuhr man in Griechenland, zahlt zweihunderttausend Dollar allein für das Recht, die Bestände auf Mikrofilm aufzunehmen.

Die Juden von Saloniki haben sich nicht an die Diebe (das heißt den Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches) gewandt um diplomatischen Beistand in ihrer Sache. Dennoch: Es ist ein Gebot des Anstands für die Deutschen, den wenigen Überlebenden dazu zu verhelfen, daß ein Stück ihrer Geschichte, ein Stück Erinnerung zurückkehrt. Ein bißchen diplomatischer Druck in Moskau würde ja reichen in diesem Fall, schließlich geht’s nicht um kostbare Gemälde. Eine juristische Pflicht besteht hier für die Bundesregierung wahrscheinlich nicht. Aber es wäre eine Schande, wenn sie zusähe, wie die letzten Juden von Saloniki nun auch noch bezahlten für das von den Deutschen 1943 geraubte Archiv. Doch für einen solchen Skandal scheint dieses Deutschland noch allemal gut.

DIE ZEIT, 24/1995 vom 09.06.95