Straffreiheit für Kriegsverbrecher

Anmerkungen zum Fall Scheungraber

Warum heute noch, fast 65 Jahre nach Kriegsende, Gerichtsverfahren gegen Kriegsverbrecher? Muss nicht einmal Schluss sein, haben wir nicht genug getan mit der justitiellen Aufarbeitung der Untaten der NS-Zeit? Auf den ersten Blick mag es so scheinen.

Eine Statistik des Bundesjustizministeriums aus dem Jahr 1986 hat einmal  eine Zahl von insgesamt 90 921 Ermittlungsverfahren wegen nationalsozialistischer Straftaten ausgewiesen, 6497 Angeklagte wurden (bis dahin) von bundesdeutschen Gerichten rechtskräftig verurteilt. Einige Prozesse haben weltweit Aufsehen erregt – der Frankfurter Auschwitzprozess, der Maidanek-Prozess, der Ulmer Prozess gegen die Einsatzgruppen. In Ludwigsburg ermittelte seit Dezember 1958 eine Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Doch die Art Kriegsverbrechen aufzuklären, die Täter wie Josef Scheungraber begangen haben, gehörte zunächst ausdrücklich nicht zu den Aufgaben dieser Institution, sie kümmerte sich in erster Linie um NS-Verbrechen  im engeren Sinne, also etwa die Massenmorde in Konzentrationslagern.

So blieb, was Wehrmacht und Waffen-SS zum Beispiel allein in Italien angerichtet haben, zwischen dem 8. September 1943, dem Datum der italienischen Kapitulation, und dem 8. Mai 1945,  ungesühnt. Wenigstens was die bundesdeutsche Justiz angeht. Über 10 000 Zivilisten hatten die Besatzer bei sogenannten Repressalmaßnahmen und anderen Racheakten umgebracht, darunter mindestens 580 Kinder im Alter von weniger als 14 Jahren.

Als mutmaßlicher Hauptgrund für die Schonung der Täter sei hier, als erstes, die in den frühen Jahren der BRD erfolgte Renazifizierung der Justiz genannt. Zwar beweist die vormalige NS-Karriere eines Staatsanwalts nicht in jedem Einzelfall die vorsätzliche Strafvereitelung in einem Ermittlungsverfahren gegen einen Kriegsverbrecher. Doch kann nach allgemeiner Lebenserfahrung davon ausgegangen werden, dass Staatsanwälte, die 12 Jahre lang dem NS-Regime treu gedient hatten, zumindest keinen großen Strafverfolgungseifer an den Tag gelegt haben dürften, wenn es um die mutmaßlichen Tötungsdelikte „Alter Kameraden“ ging.  Das Problem der Verjährung kam hinzu – Mord ist  davon ausgeschlossen, so hat es der Deutsche Bundestag 1969  entschieden, Totschlag aber war nach 20 Jahren verjährt. Und typische juristische Mordmerkmale  wie Grausamkeit, Heimtücke, niedrige Beweggründe nachzuweisen, dazu gaben sich deutsche Staatsanwälte in der Regel nicht allzuviel Mühe.

Und Italien?  Hier haben die Justizorgane erst vor wenigen Jahren damit begonnen, über deutsche Kriegsverbrecher zu Gericht zu sitzen und sie, in der Regel in absentia, zu verurteilen. Deutschland liefert aber die Verurteilten nicht aus. So konnten sich die deutschen Kriegsverbrecher, die der  Strafverfolgung durch die Siegermächte unmittelbar nach Kriegsende entgangen waren, und das waren fast alle, in der Bundesrepublik Deutschland sicher fühlen. Bis heute. Von umso größerer symbolischer Bedeutung ist das Urteil von München. Selbst wenn der Täter seine Strafe, aus Altersgründen, wohl nicht wird absitzen müssen.

WDR5, 11.8.2009