Und die Massenmörder züchten Blumen

Es ist schäbig, wie die Historikerkommission zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des deutschen Außenministeriums den jüdischen Historiker und Auschwitz-Überlebenden Joseph Wulf behandelt, dessen Arbeit sie gleichwohl ausgiebig nutzte.

Mag sein, daß sie nicht gespielt war, die Überraschung und Empörung so vieler Kommentatoren und Rezensenten nach Lektüre der 880 Seiten über Das Amt und die Vergangenheit. Ein »epochales Werk«, das »langgehegte Legenden entlarvt«, hieß es, von Enthüllungen über die Mitwirkung der Herren der Wilhelmstraße an der Vernichtung der europäischen Juden war immer wieder die Rede.
Doch was wurde da eigentlich »entlarvt« und »enthüllt«? Zum Beispiel die Dienstreise des Legationsrats Rademacher nach Belgrad im Oktober 1941, Reisezweck: »Liquidation von Juden«, die ging nun durch alle Zeitungen. Doch niemand hätte auch nur ein einziges staubiges Aktenblatt im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts (PAAA) zur Hand nehmen müssen, um Näheres über Rademachers Reise zu erfahren, auch die Autoren von Das Amt haben es offensichtlich nicht getan – sie konnten sich aus einem Buch bedienen, das in jeder Universitätsbibliothek zu finden ist und in zahllosen anderen Bibliotheken auch, im Sortimentsbuchhandel zwar nicht mehr, aber im Internet ohne weiteres. Es heißt Das Dritte Reich und seine Diener, Verfasser: Léon Poliakov und Joseph Wulf, erstmals erschienen im Jahr 1956 im Berliner Arani-Verlag und danach in immer neuen Ausgaben, unter anderem als preiswerter Nachdruck im Ullstein Taschenbuchverlag. 174 Seiten dieses Dokumentenbandes sind den Schreibtischtätern des NS-Außenamts gewidmet. Und der Reisekostenantrag des eifrigen Judenjägers Rademacher ist dort im Faksimile abgedruckt (15 Jahre bevor der »Spiegel« sich des Themas annahm), nebst ausführlichen Reisenotizen aus Belgrad und sonstigen Aufzeichnungen dieses Diplomaten aus dem Referat D III zur »weiteren Behandlung der serbischen Juden«. Viele weitere Geschichten aus der Wilhelmstraße haben die Autoren von Das Amt der Dokumentation aus dem Jahr 1956 entnehmen können und sich so mühevolles Aktenstudium erspart – der Fußnotennachweis »zit. nach Poliakov/Wulf (1956)« findet sich im Anhang dutzendfach, die Originaldokumente zu besehen hielt man wohl für überflüssig.
Eines allerdings findet sich in dem Wälzer nicht: ein Hinweis auf Lebensgeschichte und -ende des Autors Joseph Wulf. Ganze 20 Zeilen widmen Conze et al. seiner und Poliakovs Arbeit, darin diese abschätzige Bemerkung: Es »blieben die dokumentarischen Editionen von Joseph Wulf und Léon Poliakov bei deutschen Historikern umstritten«. Das ist alles, was man hier über die Pionierarbeiten dieser frühen Aufklärer der NS-Geschichte lesen kann, bei denen Conze et al. sich gleichwohl fleißig bedient und so eigenen Fleiß gespart haben.
Wer war dieser Joseph Wulf, der seinem Leben im Oktober 1974 in Berlin ein Ende setzte? Geboren ist er 1912 in Chemnitz, aufgewachsen in Krakau, 1941 wurde er nach Auschwitz verschleppt. Er überlebte. Am 10. Oktober 1974 sprang er in Berlin aus seiner Wohnung im vierten Stock in der Giesebrechtstraße 12, in der Nähe des Kurfürstendamms. Kurth Kaiser-Blüth, auch er ein Auschwitz-Überlebender, schrieb eine Woche nach Wulfs Tod in der »Frankfurter Rundschau«: »Man kann niemals wissen, was einen Menschen zu dem verhängnisvollen Entschluß treibt, die Waffen zu strecken und seinem Leben freiwillig ein Ende zu setzen.« Henryk M. Broder wollte sich damit nicht zufriedengeben, er wollte dennoch wissen, warum ein Mensch, dessen Kraft ausgereicht hat, um Auschwitz zu überleben, seinem Leben dreißig Jahre danach ein Ende setzte. Das Ergebnis seiner Recherchen: das Hörfunkfeature »Wer war Joseph Wulf ? Erinnerungen an einen jüdischen Wissenschaftler im Gespräch mit seinen Freunden«, gesendet am 18. Oktober 1980 in der Reihe »Samstagabend auf WDR 3« in einer (damals noch möglichen) Länge von 105 Minuten – die erste ausführliche Würdigung des Historikers(auszugsweise nachzulesen im »Journal für Geschichte«).
Es kam nach der Befreiung für Wulf zunächst nicht in Frage, nach Deutschland zurückzugehen; er arbeitete bis 1947 in Polen bei der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission, gründete dann in Paris zusammen mit Michal Borwicz das Centre pour l’Histoire des Juifs Polonais. Erst als der Berliner Verleger Arno Scholz (»Telegraf«) in seinem Arani-Verlag die erste seiner drei gemeinsam mit Léon Poliakov verfaßten Dokumentationen (Das Dritte Reich und die Juden) herausbrachte, entschloß Wulf sich, nach Berlin zu gehen und seine Aufklärungsarbeit über das NS-Regime dort fortzusetzen. Als Historiker ein »Seiteneinsteiger« – er hatte Landwirtschaft und Judaistik studiert –, wurde er von der Zunft angefeindet, was ihn aber weniger störte als die Tatsache, daß seine vielen Publikationen so wenig bewirkten. Nur selten hatte er eine kleine Genugtuung wie im Fall Bräutigam, gleich zu Anfang seiner Berliner Zeit.
Bräutigam, einst Intimus des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg, zählte bereits Ende 1955, nach Hinweisen in Gerald Reitlingers Studie Die Endlösung, zu den wiederverwendeten Beamten des AA, die der Mitwirkung an der Judenvernichtung verdächtig waren. Es gelang ihm aber zunächst, sich aus der Affäre zu ziehen. Doch dann stieß der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Walter Menzel, in dem Band Das Dritte Reich und die Juden auf ein von Bräutigam abgezeichnetes Schreiben zur Regelung der »Judenfrage« in Litauen vom November 1941. Einmal auf der richtigen Fährte, fand man schließlich auch Bräutigams Kriegstagebuch samt zustimmenden Äußerungen zur Judenvernichtung; Auszüge erschienen im SPD-Pressedienst. Die Affäre endete nach längerem Hin und Her mit der Versetzung des Altnazis in den vorzeitigen Ruhestand.
Es mag auch dieser Fall Anlaß für den einen oder anderen ehemaligen Parteigenossen gewesen sein, Wulf hohe Bestechungsgelder anzubieten, um in seinen Büchern namentlich nicht genannt zu werden. Vergeblich, wohlgemerkt. Folgenlos blieben in der Regel allerdings auch Wulfs Veröffentlichungen über die wieder zu Amt und Würden gelangten Diener des Dritten Reiches. Was ihn ebenso verbitterte wie die wirtschaftliche Not, in der er lebte. Broder zitierte aus einem Brief Wulfs an einen Freund in Hamburg:
Wie Ihnen bekannt ist, habe ich bis heute 18 Publikationen über das Dritte Reich veröffentlicht. Sie wissen nicht, daß ich von allen Büchern keine Tantiemen bekomme. … Bücher dieser Art haben nur sehr kleine Auflagen und sind für den Verleger wie für den Autor ein Defizitgeschäft. Meinen Plan des Internationalen Dokumentationszentrums zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen muß ich nach vierjährigem großen Bemühen als gescheitert ansehen.
Es war ein Plan, den Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt befürwortet, sein Nachfolger Klaus Schütz dann aber erfolgreich hintertrieben hatte. Erst im Januar 1992, 50 Jahre nach der »Wannsee-Konferenz«, wurde Wulfs Idee des Dokumentationszentrums realisiert, wurde das »Haus der Wannseekonferenz« zu dem, was es jetzt ist; heute trägt die Bibliothek des Hauses mit ihren 52.000 Bänden den Namen von Joseph Wulf.
In Wulfs Brief an den Hamburger Freund aber hieß es damals weiter:
Seit über einem Jahr habe ich kein Einkommen. Nach 25 Jahren Arbeit stehe ich praktisch vor dem Nichts. Mein Thema – das Dritte Reich – ist heute nicht mehr gefragt und nicht aktuell. Ich stehe buchstäblich vor der Frage, wovon ich demnächst leben soll.
Solche Fragen müssen sich die wohlbestallten »Holocaust«-Dokumentaristen heute nicht mehr stellen, jetzt, wo Enthüllungsnachdrucke keinem mehr weh tun (die paar »Mumien« ausgenommen). NS-Forschung hat Konjunktur und wird gut bezahlt, selbst von den Konzernen, die mit Arisierung und Vernichtung durch Arbeit ihren Schnitt gemacht haben. Joseph Wulf aber zog wenige Wochen vor seinem Ausscheiden aus dem Leben in einem letzten Brief an seinen Sohn am 2. August 1974 diese Bilanz:
Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen totdokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.
Wulf hat sich totdokumentiert, im makabersten Sinne des Wortes, und es war gewiß nicht allein der Tod seiner Frau, der ihn verzweifeln ließ, wie eine Berliner Tageszeitung damals mutmaßte. Und nun läßt sich eine Historikerkommission feiern, die zu großen Teilen nur neu »enthüllt« hat, was andere in zäher jahrelanger Arbeit in den Archiven ausgegraben hatten, unter ihnen der Pionier Joseph Wulf, der ein Leben in bitterster Armut führte. Es wäre bloß anständig gewesen, wenn sie ihren Lesern wenigstens mitgeteilt hätte, wie dieser frühe Aufklärer über den NS-Staat, dieser unermüdliche Forscher zu Tode kam, warum der Auschwitz-Überlebende schließlich Hand an sich legte, und wenn sie ihm ein paar Zeilen des Andenkens gewidmet hätte, statt nur die abfällige Meinung ihrer beamteten Kollegen über den »umstrittenen« Privatgelehrten zu kolportieren.
Léon Poliakov / Joseph Wulf: Das Dritte Reich und seine Diener. Berlin 1956

Henryk M. Broder: »›… in den Wind gesprochen‹. Das Leben und Sterben des jüdischen Historikers Joseph Wulf«, in: »Journal für Geschichte« (1981) Heft 6, S. 41–48;
ders.: »Wer war Joseph Wulf ? Erinnerungen an einen jüdischen Wissenschaftler im Gespräch mit seinen Freunden«, »Samstagabend in WDR 3«, 18. Oktober 1980

Mehr über Joseph Wulfs Lebenswerk, eine Liste seiner Publikationen sowie der wichtigsten biographischen Literatur findet sich bei Wikipedia.

KONKRET 1/2011, 11.01.2011