Das Sorbas-Syndrom

Zur Rezeption der modernen griechischen Literatur in Deutschland

Im Februar 1993 erschien im Verlag 2001 ein Buch unter dem Titel Die Päpstin Johanna, auf dem Umschlag figurierte als Autor der auch in Deutschland nicht ganz unbekannte französische Theaterschriftsteller Alfred Jarry. Im Innern des Buches konnte man dann lesen, dass es sich bei der Päpstin um die deutsche Übersetzung einer französischen Übersetzung aus dem Griechischen handelt, der Autor in Wirklichkeit Emmanuil Roidis heißt und Jarry sein 1866 erstmals erschienenes Buch zusammen mit Jean Saltas 1904 ins Französische übertragen habe.

Nun gibt es solche Übersetzungen auf dem Umweg über eine Drittsprache öfter, und des modernen Griechisch mächtige Übersetzer finden sich nicht all zu viele. Aber dass der Übersetzer gleich zum Autor promoviert wird, ist allemal ein literarisches Kuriosum. Man glaubte wohl beim Verlag 2001, den Griechen Roidis für einen literarischen Nobody halten und unter dem Namen Jarry besser verkaufen zu können (auch wenn im Nachwort eine andere, umständlichere Begründung zu lesen ist). Die Affäre zeigt jedenfalls eins: Die moderne griechische Literatur hat es in Deutschland nicht leicht, und man kann mit ihr ziemlich willkürlich umspringen.

Worüber sich die Griechen immer mal wieder beschweren. Auch darüber, wie wenig Beachtung ihre belletristische Produktion bei uns doch finde, verglichen etwa mit dem Interesse, das Frankreich dem literarischen Schaffen Griechenlands entgegenbringe. Vor ein paar Jahren zeigte mir ein griechischer Kollege auf der Frankfurter Buchmesse bekümmert die aktuelle Statistik des Börsenvereins des deutschen Buchhandels: Gerade mal 17 Titel aus der griechischen Belletristik waren im laufenden Jahr ins Deutsche übersetzt worden, im Vergleich zu über 1.000 Titeln aus dem angelsächsischen Bereich. Werde denn dort wirklich soviel mehr Beachtenswertes geschrieben? Oder gibt es nur zuwenig qualifizierte Übersetzer für griechische Literatur? In Wirklichkeit geht es der modernen griechischen Literatur nicht unbedingt schlechter als anderen „kleineren“ europäischen Literaturen, wie ein Blick in die Übersetzungsstatistiken zeigt.

Gewiss, es sind auch Erfolgsgeschichten festzuhalten. Eine davon heißt Alexis Sorbas. Mit diesem Roman ist dem Kreter Nikos Kazantzakis auch in Deutschland der große Durchbruch gelungen. Was für eine Szenerie aber auch – ein anarchischer Lebenskünstler, der einem blässlichen Städter das urwüchsige Leben der ländlichen Bevölkerung nahe bringt; rachelüsterne Eingeborene, die eine Witwe lynchen, weil ein junger Mann, dem sie nicht zu Willen ist, ihretwegen Selbstmord begeht; Dörfler, die die Habe einer verstorbenen Ausländerin plündern, noch ehe ihre Leiche richtig kalt ist – diese Art Folklore eines europäischen Entwicklungslandes bediente die exotistischen Fantasien zivilisationsmüder Westeuropäer. Der sozialen Realität eines Landes, dessen Bevölkerung schon längst in ihrer Mehrheit in Städten lebte, entsprach sie nicht. Dem Erfolg des alsbald auch verfilmten Buches – demnächst eine Million Auflage in Deutschland – war das nicht hinderlich, im Gegenteil. Eher behinderte das Phänomen Sorbas die Karriere anderer Bücher, wie Demosthenis Kourtovik auf der aktuellen griechischen Buchmesse-Homepage anmerkt: wegen der Enttäuschung darüber, dass die griechische Literatur keine exotischen Gestalten wie Alexis Sorbas mehr anbot. Und die sucht, den Sirtaki tanzenden Anthony Quinn vor Augen, seit Jahrzehnten offenbar immer noch nicht nur das touristische, sondern auch das lesende Publikum.

Natürlich haben es die „kleinen“ Literaturen ganz besonders mit dem ewigen Übersetzungsproblem zu tun. Während in der DDR griechische Literatur fast immer sauber übersetzt und jede Übersetzung gründlich lektoriert wurde – Staatsverlage waren da eben besser dran – hat es bei anderen deutschen Übertragungen so manchen schrecklichen Schiffbruch gegeben. Zum einen, weil all zu viele Freizeitübersetzer auf diesem Feld herumdilettieren, zum anderen, weil selbst renommierte Verlage sich offenbar kaum mehr ein Fachlektorat leisten, wenn es um die Literatur kleinerer Länder geht. Die so schrecklich gescheiterte Kavafis-Ausgabe aus dem Ammann-Verlag war so ein Fall aus jüngster Zeit (FREITAG 08/98). Dutzende von sinnentstellenden lexikalischen Fehlern fallen schon bei einer ersten Durchsicht ins Auge, vom Stil wollen wir gar nicht erst reden. Jeder griechische Germanistik-Student hätte die Fehler in ein, zwei Tagen korrigiert, aber die paar Mark für ein Außenlektorat waren dem Verleger wahrscheinlich zuviel. Und vom geschäftlichen Standpunkt hat er ja auch Recht – ahnungslose Rezensenten füllten mit ihren hymnischen Gefälligkeitsbesprechungen die Feuilletons von der Zeit bis zum Spiegel, der Kavafis-Band verkauft sich unabhängig von der Qualität.

Schlechte Übersetzungen gibt es in so manchem renommierten Verlag. Ärgerlich ist indes, dass kaum einer auf sachkundige Kritik reagiert, wenn es die, selten genug, einmal gibt. Eine rühmlich Ausnahme: der Ullstein-Verlag, der seinen Alexis Sorbas in einer völlig neubearbeiteten, werktreuen deutschen Fassung publizierte, als er von der Neogräzistin Isidora Rosenthal-Kamarinea darauf aufmerksam gemacht wurde, dass die Übersetzung von Alexander Steinmetz nicht nur unzählige Fehler und zahllose Auslassungen aufwies, sondern auch vom Übersetzer hinzugedichtete Passagen. Der Rowohlt-Verlag, der die Taschenbuchrechte besitzt, druckt unterdessen die mangelhafte Altfassung munter weiter, auch nach 700.000 verkauften Exemplaren sind dem reichen Holtzbrinck-Konzern die Neusatzkosten wohl zuviel.

Ob gut oder schlecht übersetzt: die meisten modernen griechischen Autoren sind im Lauf der Zeit mit dem einen oder anderen Werk auch für deutsche Leser zugänglich geworden, wenn auch oft erst mit jahrzehntelanger Verspätung. Die Autoren der sogenannten 30er Generation, von Ilias Venezis bis Stratis Myrivilis, kamen ebenso ans deutsche Publikum wie die meisten Autoren der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, viele dieser oft aus dem linken Spektrum stammenden Schriftsteller allerdings zunächst nur in der DDR. Die Dichter Jorgos Seferis und Odysseas Elytis profitierten dann von ihren Literaturnobelpreisen, der Linke Jannis Ritsos mit seinem engagierten Gedichtschaffen von der „politischen Konjunktur“ der Obristendiktatur von 1967. Die half auch dem politischen Roman Z von Vassilis Vassilikos zum Erfolg, der Film zum Buch von Costa-Gavras tat ein übriges.

Es hat im übrigen immer gute Übersetzer gegeben, angefangen von Isidora Rosenthal-Kamarinea, über den in der DDR aufgewachsenen Asteris Kutulas bis zu Danae Coulmas, um nur die wichtigsten zu nennen, die sich unermüdlich um die Rezeption der zeitgenössischen griechischen Literatur bemüht haben. Und es gab auch immer Verlage, die das getan haben, in der Bibliothek Suhrkamp sind viele wichtige, sorgfältig edierte Lyrik- und Prosabände erschienen, auch Insel, Piper und Hanser scheuen das Risiko nicht, das die Veröffentlichung schöner Literatur aus einem Peripherie-Land mit sich bringt. Bestseller sind selten dabei.

Richtig ist aber auch, dass die moderne griechische Literatur es in Frankreich schon immer etwas leichter hatte. Typisch etwa das Schicksal des Romans Der dritte Brautkranz von Kostas Tachtsis. Als einer der bedeutendsten griechischen Romane der Nachkriegszeit erschien er, nur fünf Jahre nach seiner Veröffentlichung in Griechenland, 1967 im Pariser Verlag Gallimard. In Deutschland kam das Buch erst ein Vierteljahrhundert später heraus, und dann auch noch in einem kleinen Spezialverlag für griechische Literatur. In so einem Nischenverlag zu landen aber bedeutet einen schlechten Start – er wird schlicht übersehen. Inzwischen ist dieses wichtige Werk wieder aus dem Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB) verschwunden, auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, die Griechenland als literarisches Gastland feiert, sucht man den Tachtsis-Roman in den vom griechischen Kulturministerium vorgelegten Unterlagen vergebens. Und der jetzt endlich auch auf deutsch (bei Antje Kunstmann) erschienene Bürgerkriegsroman Die Kiste von Aris Alexandrou lag schon 1974 auf französisch vor, unmittelbar nach der Original-Veröffentlichung. Erwähnt sei auch, wie lange es etwa dauerte, bis der Klassiker Die Mörderin von Alexandros Papadiamantis bei uns erschien – es gingen fast 80 Jahre ins Land, bis dieser spannende „Psycho-Krimi“ aus der griechischen Inselwelt auf deutsch erschien.

In diesem Jahr präsentiert sich die griechische Literatur in Deutschland etwas opulenter als sonst. Rund 15 Millionen Mark hat das Athener Kulturministerium sich den Auftritt Griechenlands als Gastland der Frankfurter Buchmesse kosten lassen, einiges von diesem Geld haben Übersetzer bekommen. Rund drei Dutzend neue belletristische Titel aus Griechenland (Romane, Gedichtbände und Anthologien) werden in deutscher Übersetzung präsentiert, das Subventions-Angebot des griechischen Kulturministeriums für Übersetzungen hat Früchte getragen. Von welcher Qualität die sind, muss eine nähere Durchsicht der Produkte zeigen. Fünf, sechs Titel sind dabei, von denen man schon jetzt sagen kann, dass sie die Übertragung jedenfalls verdient haben. Darunter, an neueren Werken, die Romane Jenseits von Epirus von Nikos Themelis und Nachtfalter von Petros Markaris. Die auf der Messe-Homepage der Veranstalter von Demosthenis Kourtovik besonders hervorgehobene Romantrilogie Führerlose Städte von Stratis Tsirkas ist immer noch nicht dabei, kein Verleger fand sich für dieses außerordentliche Werk, der Anreiz der vollsubventionierten Übersetzung reichte auch hier nicht aus. Der für diese Zwecke zur Verfügung stehende Topf wurde nicht einmal ausgeschöpft, das Geld nicht abgegriffen. Andererseits figurieren auf der Liste der Neuerscheinungen auch Titel, die bereits vor 50 Jahren erstmals vorgelegen haben, in der alten Übersetzung (Ilias Venezis mit dem Vertriebenen-Roman Äolische Erde, Stratis Myrivilis mit der Madonna mit dem Fischleib).

Bleibt anzumerken, dass die jüngeren griechischen Autoren die lange bestimmenden Themen – Bewältigung der Vertreibung aus Anatolien, Aufarbeitung von Nazi-Besatzung, Bürgerkrieg und Militärdiktatur – hinter sich gelassen haben. Nachdem Chronis Missios 1985 mit seinem erschütternden autobiografischen Roman Gut bist du früh umgekommen (Rotpunkt-Verlag 1993) die lange tabuisierte Auseinandersetzung mit der stalinistischen Linken eingeleitet hat, beherrschen nunmehr existenzielle Probleme, Identitätsverlust und Entfremdung in der Großstadt, mehr und mehr das literarische Leben. Griechenland hat damit auch die Peripherie des Provinziellen verlassen, zugleich wächst das Interesse des Auslands an der aktuellen griechischen Buchproduktion.

Nicht zu vergessen: Die eingangs erwähnte Päpstin Johanna des Emmanuil Roidis, noch vor ein paar Jahren als Werk von Alfred Jarry angeboten, ist jetzt wieder unter dem Namen des Autors verfügbar, gleich in zwei Neuauflagen – eine hat der Verlag Bastei-Lübbe herausgebracht, die andere der Aufbau-Taschenbuch-Verlag, in der immer noch sehr gut lesbaren Übersetzung von Paul Friedrich aus dem Jahr 1904 (der die 2001-Übertragung aus dem Französischen übrigens auffallend ähnelt). Der Aufbau-Verlag hat mit der literarisch eher mittelmäßigen Behandlung des Päpstin-Stoffes durch Donna Cross in nur wenigen Jahren eine Millionenauflage erzielt und hofft nun vielleicht, an diesen Erfolg mit dem Roman von Roidis anknüpfen zu können. Zu wünschen wäre es diesem Buch – es ist (pardon, Marcel Reich-Ranicki …) ein Meisterwerk.

der Freitag, das Meinungsmagazin/ 12.10.2001