Im Zeitalter des Massentourismus und der Billigflieger gehört es heute zu den Selbstverständlichkeiten, einmal in Stambul gewesen zu sein. Durch die Schluchten des Balkans zu wandern, kann sich jeder leisten, selbst das Land der Skipetaren ist inzwischen ein Ziel des Pauschaltourismus. Vor 50 Jahren war das noch eher die Ausnahme, und was der durchschnittliche Deutsche über den Nahen Osten, den Maghreb und den Balkan zu wissen glaubte, war oft der Lektüre eines Trivialautors namens Karl May geschuldet. Die ersten sechs Bände der Gesamtausgabe des populären Schriftstellers – von „Durch die Wüste“ bis zum „Schut“ – wurden millionenfach gedruckt, die grün gebundenen Bücher gingen bei den Jugendlichen von Hand zu Hand. In meiner Jugendzeit konnte man die Bände, beispielsweise auch in rheinischen Pfarrbibliotheken ausleihen. Neuerdings sind sie wieder in Mode gekommen, es gibt Nachdrucke in Hülle und Fülle, und sogar eine historisch-kritische Gesamtausgabe, sowie, für Leute mit weniger Platz im Bücherregal, die gesammelten Werke auf DVD.
Blick eines teutonischen Gutmenschens
Wer sich durch die dicken Bände gelesen hat und mit dem unbesiegbaren teutonischen Gutmenschen Kara Ben Nemsi vom Maghreb bis nach Albanien geritten ist, hat mit allerlei abgefeimten Bösewichtern verschiedenster ethnischer Zugehörigkeit Bekanntschaft gemacht. Eine der wenigen Ausnahmen: Kara ben Nemsis treuer, aber leicht trotteliger kleiner arabischer Diener Halef, der seinen Herrn von Band zu Band zum „wahren Glauben“ bekehren will, er möge wollen oder nicht. Stattdessen wird er selbst am Ende Christ und verfällt damit als Renegat der Fatwa, aber das wusste Karl May noch nicht. Vielleicht ist der in seinem Werk immer wieder anzutreffende missionarische Impetus der Grund dafür, dass es schon zu Lebzeiten des Autors von katholischen Pädogogen als nützliche Jugendlektüre empfohlen wurde.
Kara ben Nemsi durchreitet mit seinem arabischen Diener nacheinander eine ganze Reihe von Ländern des damaligen Osmanischen Reiches, und er begegnet dort gleich zu Anfang (im Band „Durch die Wüste“) neben Vertretern aller möglichen anderen Völkerschaften auch einem Griechen. Kolettis heißt der Mann und ist ein ausgemachter Schurke. Nicht weiter bemerkenswert, durchzögen nicht Stereotypen vom verschlagenen griechischen Bösewicht die ganze Reihe der Bände eins bis sechs (und nicht nur die), und stünden dieser Kolettis und ein paar seiner Mitgriechen nicht pars pro toto für das ganze Volk. Kara ben Nemsi erkennt den Griechen schon an seinem Äußeren sofort und überdies daran, dass er, welche Schande für einen Mann, bei einem Ritt „Durch die Wüste“ nicht gut zu Pferde ist: „Dieser (Mann) war sehr lang und hager und hing auf seinem Gaule, als ob er noch niemals einen Sattel berührt hätte. Man sah ihm sofort die griechische Abstammung an.“
Das ist noch die freundlichste Beschreibung des „griechischen Typus“. Später begegnet uns der erwähnte Kolettis in Stambul wieder und stellt sich als Dieb und Raubmörder heraus, der sein verdientes Ende findet – er wird vom Galata-Turm gestürzt. Nach dessen gewaltsamen Tod fragt Kara ben Nemsi seinen Diener Hadschi Halef, ob er sich den ihm bekannten Toten noch einmal ansehen wolle. Darauf Halef: „Dieser Grieche… ist eine Kröte, die ich nicht sehen mag.“
Ähnlich freundliche Epitheta weist May auch allen anderen Griechen zu. Da begegnet dem Kara ben Nemsi ein gewisser Doxati, den er wie folgt beschreibt: „Doxati war ein kleines, altes Männchen mit einem sehr verschlagenen griechischen Gesichte.“ In Stambul führt ihn die Handlung in ein zwielichtiges Lokal, das, wie könnte es anders sein, einem Griechen gehört, Dimitri heißt er, und in dem überwiegend „griechisches Gesindel“ verkehrt, „welches den verkommensten Teil der Bevölkerung Stambuls bildet.“ Und was dort passiert, stimmt den Leser so richtig ein: „Es wohnt ein Grieche da, der ein Weib und einen Sohn hat. Sie haben Wein zu trinken und halten viele schöne Knaben und junge Mädchen, die man aber auf der Gasse niemals zu sehen bekommt… Da kommen vornehme Herrschaften und gewöhnliche Leute, Einwohner von Stambul und Fremde… und ich glaube nicht, daß alle wieder fortgehen, die gekommen sind. Man hört manchmal des Nachts einen Hilferuf oder ein Waffengeklirr, und dann sieht man gewöhnlich des Morgens eine Leiche auf dem Wasser schwimmen. Auch kommen oft das Nachts ganze Trupps von Männern, die keine Laternen haben, dafür aber mit allerlei Sachen bepackt sind, die in das Haus geschafft werden. Dann wird geteilt.“
„Deutsche Herzen, deutsche Helden“
Überhaupt, die griechischen Wirte. Man trifft nette Exemplare dieser Spezies auch in manchen anderen Bänden des umfangreichen May-Werkes an. Einen stellt der Autor in dem Buch „Deutsche Herzen, deutsche Helden“ wie folgt vor: „Eine schöne Spelunke… und ein noch schönerer Wirth! Ich glaube, dieser Mensch sticht mir für ein Goldstück jede Person nieder, die ich ihm bezeichne. Das war kein Türke, sondern ein Grieche. Die Pest über den Kerl!“
Soweit ein paar Textproben zum Bild vom Neugriechen bei Karl May. Aber festgefügte Vorurteile hat der Autor über alle Völkerschaften des vorderen Orients. Mehr oder weniger unerfreuliche Eigenschaften haben sie bei ihm alle, mit Ausnahme der Jesidi. „Nie bin ich im Oriente so an das heimatliche, deutsche Familienleben erinnert worden, als bei ihnen,“ heißt es über die Jesidi, „aber dem falschen Griechen, dem schachernden, sittenlosen Armenier, dem rachsüchtigen Araber, dem trägen Türken, dem heuchlerischen Perser und dem raubsüchtigen Kurden gegenüber mußte ich den fälschlicherweise übel beleumundeten ‚Teufelsanbeter’ achten lernen.“
Für den frömmelnden christlichen Herrenmenschen Karl May sind Griechen und Armenier auch in ihrer Eigenschaft als ostkirchliche Schismatiker hassenswert. Die Armenier noch vor den Griechen – sie sind die Bösewichter schlechthin. So heißt es im Band 2 der Reiseerzählung „Im Reich des silbernen Löwen“: „Ich habe es schon gesagt… daß mir ein Kurde zehnmal lieber ist als ein Armenier, obgleich der letztere ein Christ ist. Wenn und wo auch im Oriente irgend eine Niederträchtigkeit geschieht, da hat gewiß ein Levantiner, ein Grieche, oder, was noch viel leichter denkbar ist, ein habichtsnäsiger Armenier die Hand im Spiele.“
Massenmord an den Armeniern: „recht gethan“
So nimmt es nicht Wunder, wenn Karl May den Kurden ihre Beteiligung am ersten großen Armeniermord, den er die „vielbesprochenen armenischen Wirren“ nennt (und von denen er sagt, man wisse ja, „wie und wozu sie entstanden sind oder, richtiger gesagt, entstanden wurden“) alles andere als übel nimmt. Denn – das Folgende zitiert er im selben Band aus einem Zeitungsartikel („aus der Feder eines geistlichen Herrn“ heißt es da):
„Es war im (Konstantinopler) Handwerkerverein, wo wir über die Armenier redeten. Uns gegenüber saß ein deutscher Töpfermeister, der 19 Jahre in Konstantinopel lebt und auch Anatolien kennt. Er sagte etwa folgendes: ‚Ich bin ein Christ und halte die Nächstenliebe für das erste Gebot, und ich sage, die Türken haben recht gethan, als sie die Armenier totschlugen. Anders kann sich der Türke vor dem Armenier nicht schützen, von dem seine Noblesse, Trägheit und Oberflächlichkeit auf das Unverantwortlichste ausgenutzt wird. Der Armenier ist der schlechteste Kerl von der Welt. Er verkauft seine Frau, seine noch unreife Tochter, er bestiehlt seinen Bruder. Ganz Konstantinopel wird von den Armeniern moralisch verpestet. Nicht die Türken haben angegriffen, sondern die Armenier. Wir sind am Tage des Angriffs auf die Ottomanische Bank auf der Straße gewesen und wissen, wie es zuging. Den unierten Armeniern hat man nichts gethan, sondern nur den orthodoxen, denn diese sind die unverbesserlichen. Daß die Armenier in Kleinasien besser seien, ist eine englische Lüge. Ich bin auf den Dörfern gewesen und kenne die Dinge. Auch dort ist es der Armenier, der allein Wucher treibt. Daß die deutschen Christen Armenierkinder erziehen, hilft gar nichts. Diese werden später ebenso schlecht, wie die übrigen. Ein geordnetes Mittel, um sich gegen die Armenier zu schützen, giebt es nicht. Der Türke handelt in Notwehr!’“
Und in dem Band „Auf fremden Pfaden“ findet sich das auch in anderen Varianten kolportierte Diktum: „Ein Jude überlistet zehn Christen; ein Yankee betrügt fünfzig Juden; ein Armenier aber ist hundert Yankees über: so sagt man, und ich habe gefunden, daß dies zwar übertrieben ausgedrückt ist, aber doch auf Wahrheit beruht. Man bereise den Orient mit offenen Augen, so wird man mir recht geben. Wo irgendeine Heimtücke, eine Verräterei geplant wird, da ist sicher die Habichtsnase eines Armeniers im Spiele. Wenn selbst der gewissenlose Grieche sich weigert, eine Schurkerei auszuführen, es findet sich ohne allen Zweifel ein Armenier, welcher bereit ist, den Sündenlohn zu verdienen. Sind die sogenannten Levantiner überhaupt und im allgemeinen berüchtigt, so ist unter ihnen der Armenier derjenige, der sie alle übertrifft.“
„Die Griechen sind schuld an der Verderbnis“
Was Karl May den Griechen besonders ankreidet, ist die ihnen zugeschriebene Schuld an der „Verderbnis“ der (als geistig etwas unbedarft geschilderten) Türken, die doch einst als „edle Wilde“ aus der Steppe kamen. Zwar ist für ihn auch der Islam verantwortlich für manche ihrer Laster, die Hauptschuld aber trage der Grieche: „Der Türke war einst ein zwar rauher, aber wackerer Nomade, ein ehrlicher, gutmütiger Gesell, der gern einem jeden gab, was ihm gehörte, sich aber auch etwas. Da wurde seine einfache Seele umsponnen von dem gefährlichen Gewebe islamitischer Phantastereien, Lügen und Widersprüche; er verlor die Klarheit seines ja sonst schon ungeübten Urteils, wollte sich gern zurecht finden und wickelte sich desto tiefer hinein. Da ward der bärbeißige Gesell zornig, zornig gegen sich und andere; er wollte sich einmal Gewissheit verschaffen, wollt einmal sehen, ob es wahr sei, dass das Wort des Propheten auf der Spitze der Schwerter über den Erdkreis schreiten werde… Das blieb so, bis er gezwungen wurde, bis an den Leib in dem Sumpfe byzantinischer Heuchelei und griechischer Raffinerie zu waten.“
Erstaunlich ist, auf den ersten Blick, bei dem sächsischen Protestanten Karl May dieses antibyzantinische Stereotyp, das eher fürs katholische Milieu typisch ist. Eine wahrscheinliche Erklärung: der enge Umgang, den der Autor in seiner Gefängniszeit mit einem katholischen Anstaltsgeistlichen pflegte, der den lesehungrigen Häftling regelmäßig mit Büchern versorgte. Eher dem Zeitgeist wilhelminischer Orientpolitik verpflichtet sind May-Aussagen wie diese:
„Nur ein einziger steht von Ferne, mit christlicher Teilnahme im Herzen. Er war ihm einst ein ehrlicher Feind und möchte ihm nun auch ehrlicher Freund sein. Er hat eingesehen, daß der Türke ein ebenso großes Recht hat, sein Land zu behaupten, wie Preußen sein Schlesien, Sachsen und Hannover behalten hat. Dem Kranken, um welchen die Geier lauern, ist schon der aufrichtige Blick dieses Einen eine Bürgschaft der Genesung, und darum fühlt er sich bereit, ihm zuliebe selbst das zu tun, was er sich von anderen nie erzwingen ließe. Dieser einzige ist der Deutsche.“
Triviales geschöpft aus Trivialem
Wo hatte Karl May sein „Wissen“ über die Völker des Orients eigentlich her? Er hat ja bekanntlich, bevor er seine Orient- und Balkanromane schrieb, weder die arabische Wüste noch das Land der Skipetaren betreten, weder Bagdad noch Stambul gesehen. Auch dürfte er in Deutschland wohl kaum einem Griechen oder Türken begegnet sein. So stammten seine Völker-Stereotypen aus der Reise- und Trivialliteratur, die ihm zur Verfügung stand, vor allem in seiner Gefängniszeit, wo ihm der schon erwähnte katholische Anstaltsgeistliche jede gewünschte Lektüre zur Verfügung stellte. Es ist also das von Karl May kolportierte Bild von Armeniern und Griechen, Arabern, Kurden und Türken dasjenige, das im Deutschland seiner Zeit das am meisten verbreitete war.
Welche Auswirkungen die von dem Erfolgsautor Karl May mit seinen Millionenauflagen transportierten Völkerstereotypen in den Köpfen der Deutschen hatten, ist schwer zu sagen. Einige Griechen meinen, einige – vor allem der hellenophoben – Vorurteile seien noch lebendig, die der Autor Karl May in viele Millionen deutsche Köpfe pflanzte. Doch mittlerweile hat der Urtyp Alexis Sorbas bei den Deutschen längst die griechischen Schurken Kolettis und Doxatis als Leitfigur abgelöst. Und was die zwielichtigen griechischen Kaschemmenwirte von Stambul angeht – hätten die vielen tausend griechischen Tavernen in Deutschland solchen Zulauf, gäbe es das Karl-May-Image des griechischen Gastronomen aus Stambul noch? Wohl kaum.
NRhZ, 2.1.2008